Rede anlässlich der Bruchsaler Schlossgespräche am 02. November 2023



– Es gilt das gesprochene Wort –

Zukunft, was hält unsere Gesellschaft zusammen

Politik ist die Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen. Schon die Staatsformenlehre von Aristoteles unterscheidet zwischen der Herrschaft eines einzelnen – Monarchie oder Tyrannis, heute eher als Diktatur bezeichnet – einiger weniger – Aristokratie oder Oligarchie – und vieler, die Demokratie in unterschiedlichen Gestaltungen. Während hierarchische Ordnungen auf Über- und Unterordnung, auch Kontrolle und Zwang gründen, brauchen freiheitliche Ordnungen, Übereinstimmung, Zusammengehörigkeit. Da niemals alle von vornherein immer einer Meinung sind, müssen sie Entscheidungen durch Abstimmung oder Wahlen, durch Repräsentation oder Plebiszit treffen. Das setzt die Bereitschaft der jeweiligen Minderheit voraus, Mehrheitsentscheidungen als verbindlich zu akzeptieren, jedenfalls soweit sie nicht nach den geltenden Regeln mit neuen Mehrheiten geändert werden können. Und das erfordert ein Verständnis von Zugehörigkeit. Weltweit wäre eine solche Bereitschaft heute kaum vorstellbar. One man one vote – bei rund 9 Milliarden Menschen wären auch wir, nicht einmal 1 Prozent der Stimmberechtigten, nicht bereit, bei all diesen unterschiedlichen Interessen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Prägungen Mehrheitsentscheidungen auch für uns als verbindlich anzunehmen.

Wie bildet sich oder worauf gründet sich dieses Verständnis von Zugehörigkeit? Identität, wie ich das gerne nenne. Das Bekenntnis zu den Grundlagen unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, auch der unbedingte Vorrang des Schutzes der Menschenwürde, das war der von Dolf Sternberger so formulierte Verfassungspatriotismus, der unter der intellektuellen Führung von Jürgen Habermas jede Form von ethnisch oder völkisch begründetem Patriotismus ablehnte. Mir war das als Grundlage für eine mit Empathie verbundene Zugehörigkeit immer etwas blutleer. Und wenn ich mit einem meiner akademischen Lehrer, Dieter Oberndörfer, darüber immer wieder einmal diskutierte, konnte er meine Frage, warum er bei einem Fußballländerspiel zwischen Deutschland und Frankreich mit der deutschen Mannschaft fieberte, nicht beantworten. Also muss es für nationalen Zusammenhalt wie für kommunale oder regionale Zugehörigkeit noch etwas anderes geben. Man denke nur daran, dass sportliche Lokalderbys oft bei den jeweiligen Anhängern besonders konfliktreich sind oder auch an die kaum auszurottende Legende von der gegenseitigen Antipartie zwischen Badenern und Schwaben. Sprache, auch Dialekt, Geschichte, die Art zu leben, zu essen und zu trinken, wie man das in der von Neil MacGregor für das britische Museum so unvergleichlich gut gestalteten Ausstellung „Germany – Memories of a Nation“ erfahren kann. Oder gemeinsame Erzählungen, Erinnerungen, Sagen und Mythen, was Herfried Münkler einleuchtend beschrieben hat.

Zusammen mit religiöser oder kirchlicher Prägung entstehen daraus gemeinsame Werte und Regeln für unsere Gemeinschaft. Zum Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche passt symbolisch unser Termin heute, an Allerseelen, dem Tag nach Allerheiligen und hier im prächtigen Fürstensaal der ehemaligen Residenz der Fürstbischöfe von Speyer.

Und diese Werte sind auch für unsere Verfassung tragend. Das findet sich schon in der einleitenden Formulierung der Präambel unseres Grundgesetzes „In der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ die ich mir mit vielen anderen auch für eine europäische Verfassung wünschen würde. Und diese freiheitliche Verfassung lebt nach dem oft zitierten Satz von Böckenförde von Voraussetzungen, die sie selbst zu schaffen nicht in der Lage ist. Schließlich hat selbst der Verfassungspatriot Habermas später aus der Sicht eines, wie er sagte, „religiös unmusikalischen“ diesen Satz übernommen.

Versteht man solche Werte teilweise auch als Regel für das Zusammenleben von Menschen, etwa Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, dann landet man schnell – zumal in den Tagen von Sahra Wagenknechts Parteigründungsinitiative -beim früheren Oskar Lafontaine, der solche als Sekundärtugenden bezeichnete, mit denen man auch ein KZ leiten könne. Er wollte sich damals vom Bundeskanzler absetzen. Abgesehen von der Gemeinheit gegenüber Helmut Schmidt hat er dabei wohl auch übersehen, dass solche Gewohnheiten oder Regeln menschliches Zusammenleben zumindest entlasten und tendenziell auch friedlicher gestalten können. Und im Übrigen gibt es auch eine Nähe zur Substanz der 10 Gebote wie den entsprechenden Grundlagen aller großen Weltregionen oder auch zur goldenen Regel von Immanuel Kant. Oder wie der Volksmund sagt „Was du nicht willst das man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“

Diese niemals trennscharf zu definierenden Zugehörigkeiten unterliegen einem permanenten Prozess der Entwicklung und Veränderung, durch die wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Grundlagen und durch Begegnungen und Austausch mit anderen Gesellschaften, Handel, Reisen und Bevölkerungswanderung.

Damit sind wir beim Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Zugehörigkeit, also bei den Stichworten Migration, Integration und Assimilierung und damit beim Kern einer der Debatten, die derzeit nicht nur in Deutschland, sondern mehr oder weniger in allen westlichen Ländern gesellschaftlichen Zusammenhalt und Vertrauen in die rechtsstaatlichen Institutionen zu zerstören und unsere Gesellschaften zu spalten drohen. Ich habe das Wort „Bevölkerungswanderung“ bewusst gewählt, weil ich vermute, dass was wir mit unseren oberflächlichen Geschichtskenntnissen als Völkerwanderung zu kennen glauben, von den Germanen im römischen Reich oder den Tataren, den Hunnen, Arabern oder was auch immer im Grunde nichts anderes waren, als was wir heute erleben – heute allerdings in unvergleichlich kürzerer zeitlicher Dimension. Die große Beschleunigung dieser Veränderungsprozesse könnte vielleicht einer der Gründe sein, warum wir uns angesichts tiefgreifenden schnellen Wandels in fast allen Bereichen von Ökologie, Technologie, Wirtschaft und Kultur immer mehr ängstigen.

Dazu gehören auch die dramatischen Veränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Auflösung von 3 Kaiserreichen – Russland, Habsburg und Deutsches Reich – und den damit verbundenen Neugründungen von Staaten wie Polen über die Tschechoslowakei bis zu Jugoslawien und nach den andauernden Kriegen nach der Oktoberrevolution bis zur Stabilisierung der UdSSR einschließlich der Neugründung eines reduzierten Ungarn mit ähnlichen Problemen externer ungarischer Minderheiten wie im reduzierten Deutschen Reichen mit der Forderung nach Revision des Versailler Vertrags. Und nach dem 2. Weltkrieg die deutsche Teilung in all ihrer Vorläufigkeit und die Abtretung eines beachtlichen Teils des ehemaligen Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. Von Stalin ist überliefert, dass er kalkuliert haben soll, die westlichen Besatzungszonen würden, so zerstört wie sie waren, mit rund 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen so überfordert sein, dass sie bald einen kommunistischen Umsturz erleiden würden.

Er täuschte sich. Ganz im Gegenteil leisteten die Vertriebenen und Flüchtlinge, anfangs so wenig willkommen wie Migranten heute, einen bedeutenden, unerlässlichen Beitrag zum schnellen wirtschaftlichen Wiederaufbau. Schon in den frühen 50er Jahren reichten die Arbeitskräfte, durch Hitlers Verbrechen und den Krieg drastisch reduziert, für den wirtschaftlichen Aufschwung, der nicht zu Unrecht als Wirtschaftswunder in der Erinnerung geblieben ist, nicht mehr aus, so dass die Anwerbung von damals sogenannten Gastarbeitern aus wirtschaftlich weniger prosperierenden südlichen und südöstlichen europäischen Ländern notwendig wurde. Ernsthafte Gedanken, was das auf die Dauer für die Angeworbenen und ihre Familien bedeuten würde, machte man sich nicht und schon gar nicht über die Konsequenzen für den für demokratische Stabilität unerlässlichen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dabei ist, wie man erst später begriff, gelingende Integration für konfliktarme Migration unverzichtbar.

Politisch wurde das noch aufgeladen, durch die Formulierung des Artikel 16 unseres Grundgesetzes „Politisch Verfolgte genießen Asyl“. Auch das war eine Lehre aus Nazibarbarei und den verzweifelten Bemühungen von Millionen von Verfolgten, Zuflucht vor den Nazi-Schergen zu finden. Im deutschen Juristenperfektionismus wurde aus dem schönen Satz ein Anspruch auf Sozialleistungen auf westdeutschem Niveau bis zur rechtskräftigen Widerlegung der Behauptung, politisch verfolgt zu sein. Findige Anwälte konnte daraus leicht den Aufenthalt auf 6 und mehr Jahre verzögern. Jedenfalls bezog solange ein Mensch aus Basel im benachbarten Lörrach Sozialhilfe wegen der Behauptung, er sei politisch verfolgt. Franz Josef Strauß, so erinnere ich mich, hat einmal in einer Debatte gesagt, was wir denn machen würden, wenn über 1 Milliarde Chinesen – nicht ohne Grund – behaupten würden, sie seien politisch verfolgt.

Und schon in den 70er Jahren wies der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner auf die sich daraus ergebende Sprengkraft hin. Aber es brauchte bis 1992/93 ehe die damaligen Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und SPD, neben mir Hans-Ulrich Klose, der dieser Tage verstorben ist, schließlich im sogenannten Asylkompromiss die notwendige Mehrheit für eine Grungesetzänderung zustande brachten, in dem der Regelungsgehalt des deutschen Grundrechts auf den Schutzbereich der Genfer Flüchtlingskonvention zurückgeführt wurde. Seitdem können Asylbewerber aus sicheren Herkunfts- oder Drittstaaten, in denen sie bereits Schutz gefunden haben, unmittelbar zurückgewiesen werden, und da Deutschland ausschließlich von im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sicheren Staaten umgeben ist, haben wir eigentlich allenfalls europarechtlich, aber nicht verfassungsrechtlich Probleme mit begrenzenden Regelungen. Ich will diese Geschichte nicht im Einzelnen erzählen, wie sie bis in unsere Tage die Stabilität nicht nur der Ampel-Koalition, sondern auch unseres demokratischen Rechtsstaats zunehmend gefährdet.

Dazu zählt auch das Kapitel Staatsangehörigkeit und die Frage, ob die Verleihung deutscher Staatsangehörigkeit als Ergebnis zum Abschluss gelingender Integration verstanden wird oder eher als ein Instrument zur Förderung der Integration. Selbst die Frage, ob bei der Gewährung deutscher Staatsangehörigkeit, die bisherige behalten werden kann, also die Frage ob Doppel- oder mehrfache Staatsangehörigkeit die Regel wird, hatte 1999 das Potential, dass die rot-grüne Koalition in Hessen die sicher geglaubte Landtagswahl verlor. Übrigens kann die Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, auch das eine Konsequenz aus der Nazi-Zeit, nicht entzogen werden. Und so führt es auch zu der Frage welche Voraussetzungen für Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsrechte, insbesondere auch Arbeitsaufnahmeerlaubnis und Anspruch auf Sozial- und Fürsorgeleistungen gefordert werden.

Sprachkenntnisse, Bekundung von Verfassungstreue und Straffreiheit, Antragsstellung vor oder erst nach der Einwanderung und Schutz von Leben und Menschenwürde von durch Krieg, Unterdrückung, Naturkatastrophen oder sonstiges massenhaftes Elend zur Flucht Gezwungenen, im Zweifel also, soweit nicht asylberechtigt, sogenannte illegale Migration mit ihrer verbrecherischen Ausbeutung durch hochkriminelle Schlepperbanden. Und spätestens seit dem barbarischen Terror von Hamas gegen Israel diskutieren wir, was der Satz, dass die Sicherheit Israels Teil deutscher Staatsräson ist, denn bedeutet, und damit auch, welche vernunftgeleitete Interessenkalkulation Verpflichtung staatlichen Handelns ist.

Und so kommen wir zu den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenhalts als notwendige Voraussetzung für die Stabilität einer freiheitlichen Ordnung zurück. In seinem Buch „Das Unbehagen in der Demokratie“ beschreibt der politische Philosoph Michael Sandel, was ungezügelte Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben. Mich hat bei der Lektüre besonders fasziniert, wie er den grundlegenden Unterschied in der amerikanischen Verfassungsgeschichte zwischen Republikanern und Demokraten zwischen dem Streben nach möglichst großer individueller Freiheit einerseits und möglichst viel Einflussmöglichkeiten für jeden Einzelnen auf kollektive Entscheidungen andererseits herausarbeitet. Beim demokratischen Ansatz würde die größtmögliche individuelle Freiheit durch Eigenverantwortung für kulturelle und soziale Förderung, Stiftungen, Wohltätigkeit, Sponsoring und durch persönliche Sicherheit – Recht auf Waffenbesitz – und Schutz privaten Eigentums angestrebt und im republikanischen Verständnis möglichst viel Teilhabe an Entscheidungen im Rahmen des amerikanischen Systems von Check und Balances.

Beide Alternativen in ihren wechselnden Ausprägungen setzen gesellschaftlichen Zusammenhalt voraus, was Alexis de Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ schon beschrieben hat. Und Sandel kommt in seiner Empörung über die Exzesse ungezügelter Märkte nicht zuletzt zu der Einsicht, dass wie in der sozialen Marktwirtschaft Unterschiede auch in wirtschaftlichen Ergebnissen so erwünscht sind für tendenzielle Motivation wie gegen unfaire Übertreibungen gewappnet sein müssen. Und da bin ich bei dem Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, der sagte, die soziale Marktwirtschaft sei die dem Menschen am ehesten gemäße Ordnung, weil sie ihn moralisch weder über- noch unterfordere. Wir müssen unseren Eigennutz nicht unterdrücken und müssen uns doch auch zu unseren sozialen Verpflichtungen bekennen.

Wenn ich über die Grundsatzprogrammatik meiner Partei nachdenke, spreche ich oft vom christlichen Menschenbild, dass ihr zugrunde liege, und das ist der Mensch in seiner Doppelnatur, zum Guten befähigt und zugleich im Bösen verhaftet. Davon ausgehend landet man schnell bei Max Webers Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik oder bei den Lehren von den Zwei-Reichen oder den Zwei-Regimenten, aus denen etwa Dietrich Bonhoeffer die religiöse oder weltanschauliche Neutralität des Staates ableitet. Mir fällt dann auch Lessings Nathan ein, der zu seiner Tochter sagte: „Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist.“ Gut handeln statt andächtig schwärmen, vielleicht ist dies das Problem der Grünen Basis mit der Regierungsverantwortung, von der ich schon immer gesagt habe, sie sei ein Rendezvous mit der Realität. Dazu passt auch die Einsicht, die Bundeskanzler Helmut Schmidt so eindrucksvoll bei der Trauerfeier für den ermordeten Hanns Martin Schleyer formulierte. Er wisse, dass er Schuld am Tode Schleyers auf sich geladen habe, aber wer politisch zu handeln verpflichtet sei, lade immer, im Tun oder im Unterlassen, Schuld auf sich.

So werden auch wieder die engen Bezüge zwischen Politik und Religion sichtbar. Und deshalb lassen die Krisen, in der beide christlichen Kirchen jedenfalls bei uns in Deutschland stecken, die Politik und die demokratischen Institutionen nicht unbeeinflusst. Dessen sich bewusst zu bleiben, ist das Beste was, wir alle, religiös, musikalisch oder nicht, kirchlich gebunden oder nicht, für uns selbst tun können. Aber wir können etwas tun, und das begründet Zuversicht. Im internationalen, wie im intertemporalen Vergleich geht es uns Deutschen ja so gut wie wenigen anderen, und dennoch wächst die Unzufriedenheit, auch die Angst vor der Zukunft. Parallel zur Höhe der Sozialausgaben steigt die Zahl der Hilfsbedürftigen. Der baden-württembergische Finanzminister Bayaz von den Grünen kritisierte jüngst Bundeskanzler Scholz für seinen Satz:“ You‘ll never walk alone“, weil er damit der Bevölkerung insinuiere, der Staat, die öffentliche Hand könne alle Verluste kompensieren. Er übersehe dabei, dass Knappheit den Preis bestimme und Überfluss zum Verlust an Wertschätzung führe. Er hat Recht. Und da wir eigentlich nicht gerne zu Veränderungen bereit sind, solange es uns so gut geht, dass sie nicht notwendig erscheinen, beklagen wir zwar allgemeinen Reformstau, wehren uns aber sofort gegen jede Reform, wenn sie uns persönlich etwa auch als Anlieger, betrifft. „Heiliger Sankt Florian“, verschon‘ mein Haus zünd and’re an.

Auch dieser Reformstau gefährdet die Stabilität des freiheitlichen Rechtsstaats, von dem die Bürger ein Mindestmaß an Effizienz erwarten. Aber je größer der Druck, umso eher die Bereitschaft zur Änderung. Und deshalb sind wie im chinesischen Schriftzeichen Krisen gleich Chancen. Nimmt man hinzu, dass fast alle Menschen auf dieser Erde uns um unsere Ordnung beneiden, die wir selbst so kritisch und missgünstig betrachten, dann kann daraus nicht nur Zuversicht, sondern vor allem auch Selbstbewusstsein wachsen. Auch das ist eine Grundlage von gesellschaftlichem Zusammenhalt.

Jede Gesellschaft braucht Kommunikation, Austausch von Meinungen, Erfahrungen und Interessen. Das ist Voraussetzung der freiheitlichen Willensbildung, und sie hängt entscheidend von den benutzten Kommunikationstechniken ab. Mündlicher Austausch oder schriftliche Debatte. Ohne Guttenbergs Erfindung des Buchdrucks wäre die Geschichte der Reformation zweifelsfrei anders verlaufen. Und heute führen viele die Krise unserer politischen Institutionen auf die Veränderungen unserer medialen Debatten durch die Informations- und Kommunikationstechnologie zurück. In den vielfach dominierenden sozialen Netzwerken gibt es kaum noch eine gemeinsame Öffentlichkeit, sondern stattdessen Shitstorms und Follower, also Debatten nur noch innerhalb mehr oder weniger abgeschlossener Gruppen oder Blasen. Entsprechend wird die Bedeutung einer Meinungsäußerung kaum noch nach der Qualität des Inhalts gemessen, sondern nach der Zahl der Klicks. Und das erklärt die Wirkungskraft auch von Fake News. Was früher peinlich gewesen wäre, setzt sich heute durch große Aufmerksamkeit durch. Ich erinnere mich an ein Gespräch Ende Februar 2016 in Davos, in dem mir der damalige Google Chef Eric Schmidt sagte, wir sollten uns mal mit dem Gedanken vertraut machen, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten werden könne. Das war zu diesem Zeitpunkt noch eher unwahrscheinlich, und ich habe ihn auch etwas erstaunt angesehen. Er sagte, er meine nicht, dass er Kandidat der Republikaner werde, sondern dass er Präsident der Vereinigten Staaten werden könne. Er werde ihn nicht wählen, aber er wolle mir erklären, warum er das für möglich halte. Donald Trump habe die Fähigkeit immer alle Aufmerksamkeit in einem Raum auf sich zu ziehen. Als ich mir später das Fernseh-Duell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump angesehen habe, konnte ich verstehen, was er meinte. Und heute beobachten wir fassungslos, dass er aus jedem neuen Strafverfahren im Zweifel noch höhere Werte in Umfragen erzielt. Am Ende könnte er sogar im Gefängnis einsitzen, zum Präsidenten gewählt werden und sich dann anschließend selbst begnadigen.

Ohne seriöse Öffentlichkeit keine stabile Demokratie. Habermas glaubte einst voller Begeisterung, dass Internet ermögliche eine permanente öffentliche Debatte unter Beteiligung möglichst vieler. Inzwischen sieht er eher, dass diese Art von öffentlicher Debatte zur Zerstörung einer seriösen Diskussionskultur und damit der Grundlagen für eine stabile Demokratie führt.

Die Vielfalt von Zugehörigkeiten, Identitäten, bildet ein Netzwerk aus kleineren Einheiten, politisch vom Stadtteil über die Kommune, Region, Nation bis hoffentlich auch zu Europa und ansonsten Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, kulturelle, sportliche und sonstige Vereine von gleichen Interessen; aus all dem entsteht Gesellschaft. Aber auch in diesen gesellschaftlichen Gruppen geht zunehmend der Kontakt zwischen unterschiedlichen Zugehörigkeiten verloren. Menschen mit Migrationshintergrund bilden eigene sportliche und kulturelle Vereine, und auch sonst sieht man soziale Spaltungen auch in vielen dieser kleineren Einheiten. Und so gewinnt die Diskussion über ein Pflichtjahr eine neue Bedeutung über die von Putins Überfalls auf die Ukraine neu entstandene Nachdenklichkeit hinaus, was eigentlich Verteidigungsfähigkeit wirklich bedeutet. In einem wie auch immer gearteten Pflichtjahr könnten junge Menschen wie einst bei der Wehrpflicht nach Abschluss ihrer schulischen Ausbildung wenigstens für einige Zeit mit Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten und damit auch Bildungswegen zusammenkommen, was wiederum eine Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt sein könnte. Ganz ähnlich führen die problematischen medialen Entwicklungen zu neuer Unterstützung für öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen und damit als Korrektiv für den nur nach Wettbewerb um Auflagen und Einschaltquoten und Werbeeinnahmen ausgerichteten Printmedien und sozialen Netzwerken. Entsprechend nehmen auch Diskussionen zu, ob der freiheitliche Staat nicht auch den Qualitätswettbewerb in Printmedien etwa durch Erleichterungen von Zustellungskosten lebensfähig halten sollte. Jenseits aller Argumente Pro und Contra unterstreicht auch das die Bedeutung von Kommunikation für die Stabilität der freiheitlichen Verfassung.
So würde vielleicht auch Böckenförde heute seinen Satz von den Voraussetzungen für einen freiheitlichen Verfassungsstaat dahingehend ergänzen, dass die im Verfassungsrecht entwickelte Lehre von Daseinsfürsorge des freiheitlichen Verfassungsstaats auch so interpretiert werden muss, dass dieser Staat sich auch selbst um die Voraussetzungen für seine eigen Stabilität kümmern muss.

Zusammenfassend: Veränderungen bedrohen uns umso weniger je mehr wir sie selbst gestalten. Deshalb sind Krisen Chancen, und entsprechend große Krisen auch große Chancen, und am Ende sind wir genau deshalb niemals ohnmächtig. Wenn Freiheit nicht voraussetzungslos ist, dann bedeutet sie andererseits auch, dass wir immer selbst etwas tun können. Und das schafft auch Zusammenhalt.