Statistik und Datenschutz ? warum unsere Gesellschaft beides braucht



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des Präsidentenwechsels im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Der Geistesaristokrat Friedrich Nietzsche war so ziemlich das Gegenteil eines überzeugten Demokraten. Er glaubte an die Gestaltungsmacht des ?großen Einzelnen? und nicht an den Willen der Mehrheit. Die Masse kam für ihn nur in Frage, sofern sie eine schlechte Kopie der großen Männer war, ein gefügiges Werkzeug oder auch ein hemmender Faktor. ?Im Übrigen?, so Nietzsche, ?hole sie [die Masse] der Teufel und die Statistik!?

Die Statistiker haben sich das nicht zweimal sagen lassen und es zu ihrer Aufgabe gemacht, eine Vielzahl von Daten zum Leben der Vielen zu erheben. Gerade eine demokratisch legitimierte Ordnung braucht Auskunft darüber, wie es den Menschen geht, die diese Ordnung bilden und wie es um die Infrastrukturen bestellt ist, die dem Wohl der Gemeinschaft dienen. Je komplexer und schwerer zu durchschauen unsere Ordnung wird, je schneller sie sich wandelt, umso differenziertere Daten brauchen wir und umso bessere Methoden der Datenerhebung. Anders können wir die Welt um uns herum nicht verstehen.

Ohne ein klares und ehrliches Bild von der Wirklichkeit, kann es keine demokratische Politik geben, jedenfalls keine gute. Statistiken weisen uns auf Entwicklungen ? auch Probleme ? hin. Sie machen erkennbar, wo wir Handlungsbedarf haben. Wir brauchen Statistiken auch für die seriöse Kalkulation der Kosten, Risiken und Chancen im Vorfeld politischer Entscheidungen. Statistik kann ein Instrument politischer Ergebnis- und Erfolgskontrolle sein. Um es konkret zu machen: Ohne Bevölkerungsstatistik könnten wir weder faire und gleiche Wahlen organisieren noch die richtige Zahl an Schulen bauen und ausreichend Krankenhausbetten bereitstellen. Ohne die gerne kritisierte Wirtschafts- und Finanzstatistik wäre es zum Beispiel unmöglich, Aussagen und Maßnahmen zu so wichtigen Fragen wie der Geldwertstabilität zu treffen.

Die Datenerhebungen des Statistischen Bundesamts, der Statistischen Landesämter und anderer Behörden sind also nicht, wie einmal ein spitzzüngiger Journalist schrieb, ein Zahlenfriedhof auf Altpapier. Die Statistiken werden vielmehr von Bürgern, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik millionenfach nachgefragt und genutzt. Vor allem aber gehört es zur staatlichen Verantwortung, die Statistiken zu erheben, die es ihm ermöglichen seine Aufgaben sachgerecht zu erfüllen. Dazu brauchen wir Institutionen wie das Statistische Bundesamt, führungsstarke Präsidenten und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Wir verabschieden Sie, Herr Radermacher, heute nicht ? wie es sonst öfters der Fall ist ? in den verdienten Ruhestand. Sie verlassen uns in Richtung Luxemburg, wo Sie inzwischen als neuer Generaldirektor das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften leiten. In gewissem Sinne bleiben Sie also ? ich habe mir sagen lassen, dass Sie gerne und gut Basketball spielen ?,Teil der Mannschaft. Dass mit Ihnen nun ein Deutscher dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften vorsteht, ist sicher auch ein Beleg dafür, dass sich unser Land mit seinem Statistischen Bundesamt im Kreis der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht verstecken muss.

Der Wechsel zu Eurostat kommt nicht völlig überraschend. Für die Politik werden europäische Handlungsansätze und damit auch europaweit erhobene Daten immer wichtiger. Ihr persönliches Interesse für die internationale Statistik ist niemandem verborgen geblieben. Dank Ihres Engagements ist es uns während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auch auf dem Feld der Statistik gelungen, Akzente zu setzen. Den Vorsitz in der ?Ratsarbeitsgruppe Statistik? zu führen, kann für Fachfremde zunächst einmal etwas trocken klingen. Auch die Entwicklung eines ?Systems der Bürokratiekostenmessung? stößt nicht in gesteigertem Maße auf öffentliches Interesse. Damit wurde aber ein wichtiges Instrument entwickelt, damit wir nicht unbedingt notwendige Kosten erkennen und auch vermeiden können.

Das ist auch deshalb wichtig, weil manche in Wirtschaft und Gesellschaft das Gefühl haben, die Belastungen durch Statistik würden immer mehr. Dabei kommen die meisten Auflagen und Anforderungen nicht von der nationalen Ebene. Über sechzig Prozent der Bundesstatistiken sind inzwischen durch europäische Rechtsvorschriften bestimmt. Viele ? denken wir an die Migrationsstatistik oder das Bruttoinlandprodukt ? sind schlicht notwendig. Das bedeutet aber nicht, dass auch die Organisation statistischer Erhebungen bis ins Detail vorgegeben werden muss, und es bedeutet auch nicht, dass die statistischen Systeme in den Mitgliedstaaten vereinheitlicht werden müssen. Jedes Land hat hier seine eigene Tradition und Verwaltungskultur, und die Europäische Union sollte in diese gewachsenen Strukturen nicht eingreifen ? auch im Interesse der Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern.

Grundsätzlich, das gilt auf allen Ebenen, sollten wir uns immer fragen, welche Erhebungen wirklich notwendig sind, und welche nicht. Vielleicht sind manche Daten irgendwann einmal überflüssig oder können ? aus dem Kontext gerissen ? sogar irreführend wirken. Nackte Zahlen können aber auch ganz gut sein, um unbegründete Befürchtungen zu entkräften. Bei mancher öffentlichen Debatte könnte man ja den Eindruck bekommen, wir seien auf dem Weg in einen Überwachungsstaat. Als würde der Staat bald jede Privatwohnung durchleuchten. Da sind die Zahlen zur akustischen Wohnraumüberwachung doch erhellend: 2007 gab es in Deutschland insgesamt 5 Millionen strafrechtliche Ermittlungsverfahren. Dabei setzten die Sicherheitsbehörden in ganzen 10 Verfahren das Instrument der akustischen Wohnraumüberwachung ein. Davon, dass der Staat in die Privatsphäre seiner Bürger eindringt, kann also keine Rede sein.

Ich glaube, die meisten Menschen in Deutschland wissen das auch. Kaum einer kommt etwa heute auf die Idee, dem Staat wegen des anstehenden Zensus 2011 ? er ist Teil der Europa-weiten Volkszählungsrunde 2010/11 ? Datensammelwut zu unterstellen. Was gab es nicht für eine Hysterie in der Volkszählungs-Debatte der 1980er Jahre. ?Meine Daten müsst ihr raten!? war ja damals einer der Slogans der Volkszählungs-Gegner.1 Einige politische Gruppen riefen zum Boykott auf. Der damalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Reinhold Baumann, sprach deshalb sogar von einem Glaubenskrieg.2

Heute zeigen sich viele der damaligen Kritiker weit gelassener. Selbst ein in Fragen des Datenschutzes eher kritischer Kommentator von der Süddeutschen Zeitung findet, dass an der auf den Weg gebrachten registergestützten Datenerhebung nichts auszusetzen sei.3Manchem früher skeptischen Experten wie dem Geschäftsführer des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz, geht die registergestützte Zählung gar nicht weit genug.4 Im Rückblick zeigt sich, dass der Gesetzgeber ? und das Statistische Bundesamt ? stets vertrauenswürdig mit den erhobenen Daten umgegangen sind. Und wie wichtig die damals gewonnenen Erkenntnisse waren ? ob in der kommunalen Finanzplanung, in der Sozialpolitik oder im Wohnungsbau.

Aber: Wir müssen sensibel bleiben, was die Sorge der Bürgerinnen und Bürger um die Sicherheit ihrer Daten angeht ? gerade in Zeiten allgegenwärtiger Informationsmedien und großer staatlicher wie nicht-staatlicher Datenbanken. Die jüngst bekannt gewordenen Missbräuche durch Private haben deutlich gemacht, welcher Schaden entstehen kann, und sie haben bestimmt auch viele misstrauisch gemacht. Es ist doch aber klar, dass wir in einer Informationsgesellschaft nicht ohne Daten auskommen, der Staat nicht, die Wirtschaft nicht und auch nicht gemeinnützige Organisationen, die um Spenden bitten.

Deshalb müssen wir auch da ? wie überall ? die richtige Balance finden. Statistik und Datenschutz stehen nicht in unauflösbarem Widerspruch zueinander. Ohne Statistik kein vernünftiges Planen; ohne Datenschutz kein Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Freiheit und Demokratie. Die Daten des Zensus 2011 werden ? wie die der letzten Volkszählung ? viele Entscheidungen mitprägen, wo und wie Bund, Länder und Kommunen ihre Steuermittel ausgeben. Wir werden diese Daten so erheben, dass die Bürger auf die Sicherheit ihrer Daten vertrauen können.

Das Vertrauen der Bürger zu erhalten gehört zu der großen Verantwortung eines zukünftigen Präsidenten des Statistischen Bundesamtes. Er bekleidet traditionell in Personalunion ein weiteres Amt, das für unsere demokratische Ordnung unverzichtbar ist. Der Bundeswahlleiter kontrolliert mit der ordnungsgemäßen Durchführung der Bundestagswahlen nicht mehr und nicht weniger als die Integrität des demokratischen Prozesses.

Dieser Verantwortung werden 2009 nun Sie sich stellen, sehr geehrter Herr Egeler. Drei Jahre später werden Sie das Privileg haben, die ersten gesamtdeutschen Volkszählungsdaten zu verkünden. Ich bin froh, mit Ihnen einen erfahrenen Leiter an der Spitze des Amtes zu wissen. Sie haben mit dem Beschaffungsamt über Jahre eine wichtige Serviceeinrichtung des Bundes geleitet und dort mit modernen elektronischen Verfahren die Arbeitsabläufe neu organisiert. Ein Beispiel ist das elektronische ?Kaufhaus des Bundes?, in dem die Behörden im Geschäftsbereich des BMI fast alles finden können, was man sich vorstellen kann ? vom Abbruchhammer bis zum Zweitaktöl. Was das Management einer vielfältigen ?Produktpalette? angeht sind sie also bestens vorbereitet.

Für die vor Ihnen liegenden Aufgaben wünsche ich Ihnen, Herr Egeler, nun eine glückliche Hand, Zusammenhalt unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Rückhalt bei ihren Partnern und in der Bevölkerung. Dem Statistischen Bundesamt wünsche ich weiterhin so viel Erfolg ? weil es uns in der Demokratie eben nicht ? wie Nietzsche meinte ? um den ?großen Einzelnen?, sondern um die vielen Einzelnen und das gesellschaftliche Ganze geht.

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[1] Malte Herwig: ?Das große staatliche Datenraten?, in: ?FAZ? vom 9. November 2005, S.46
[2] Reinhold Baumann: ?Alle datenschutzrechtlichen Anforderungen sind erfüllt?, in: ?Das Parlament?  vom 11. April 1987
[3] Heribert Prantl: ?Der Widerspenstigen Zählung?, in: ?Süddeutsche Zeitung? vom 21. September     2007, S. 2
[4] Reiner Klingholz: ?Plädoyer für eine Volkszählung?, in: ?FAZ? vom 7. September 2005,S. 35