Politiker predigen – Reformation und Politik



Rede im Abendmahlsgottesdienst in der ökumenischen Gottesdienstreihe „Politiker predigen – Reformation und Politik“ in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am 28. September 2014 in Berlin

„Vor zwei Wochen habe ich in der Französischen Friedrichstadtkirche das neue Buch des Berliner Historikers Heinrich August Winkler vorstellen dürfen: den dritten Band seiner „Geschichte des Westens“.

Der Westen ist für Winkler mehr als Geographie. Er ist ein „normatives Projekt“, ein Bündel von politischen Ideen, für mich deswegen in erster Linie ein Ordnungsprinzip.

Der Westen – das sind: Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie, soziale Stabilität und ökologische Nachhaltigkeit.

Diese Werte sind in unseren Gesellschaften lebendig, weil sie sich über Jahrhunderte aus tief eingewurzelten Glaubensüberzeugungen entwickelt haben – gerade auch aus solchen der Reformation.

Reformatorische Gewissensfreiheit als Kraftquelle der Entwicklung zu personaler Freiheit und Rechtsgleichheit, zur eigenwilligen und eigenverantwortlichen Selbstentfaltung eines jeden Menschen – diesen Zusammenhang hat Udo Di Fabio als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Kuratoriums zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung noch einmal eindringlich dargelegt.

Aus dem christlichen Bild vom Menschen stammen die politischen Werte des Westens. Dem von Gott geschaffenen Menschen kommt die unantastbare Würde ohne Unterschied zu; auf ihn beziehen sich die für alle geltenden Menschenrechte.

„Vor Gott sind alle Menschen gleich“, oder in Luthers Übersetzung: „Es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ – dieser Gedanke im Brief des Paulus an die Römer hatte weitreichende Konsequenzen über die politische Ideengeschichte hinaus bis in die Wirklichkeit unseres Rechtsstaates und der politischen Teilhabe in der Demokratie.

Dieser Westen mit seinem „normativen Projekt“, seinem Ordnungsprinzip, sieht sich heute vielfach in Frage gestellt – und nicht erst seit den letzten Monaten einer unübersichtlichen, vielfältig krisenhaften und daher für viele bedrückenden Zeit.

Wir haben seit Ende des Kalten Krieges keinen weltweiten Siegeszug der Demokratie erlebt. Nicht-demokratische Herrschaft hält sich zäh, oft in neuem Gewand; in China gar mit wirtschaftlichem Erfolg.

Russland stellt sich unter seiner gegenwärtigen Regierung immer offener in die Reihe der Kräfte dieser Welt, die die Werte und damit die Lebensweise und das Gesellschaftsmodell des Westens in Frage stellen.

Der Islamismus wird immer bedrohlicher. Viele überkommene Konflikte, wie der im Nahen und Mittleren Osten zwischen Israelis und Palästinensern, scheinen nicht enden zu wollen. Dazu neue Religionskonflikte und -kriege innerhalb der islamischen Welt. Von vielen Regionen Asiens und Afrikas gehen Gefahren aus für Frieden und Stabilität.

Wenn man das kaum noch zu entwirrende Durcheinander von religiösen und fundamentalistischen Konflikten, von marodierenden Mörderbanden, politischen und wirtschaftlichen Interessen aus allen Himmelsrichtungen, sieht, fühlt man sich an das Entsetzen des Dreißigjährigen Krieges erinnert.

Auch die schroffe Ungleichzeitigkeit unseres Erlebens macht uns zu schaffen: hier globalisierte Eliten und Lebenswelten, dort Kämpfer für neue Kalifate.

Die Pluralisierung unserer Gesellschaften, vorangetrieben von Globalisierung und Migration, verlangt vielen vieles ab. Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels und beunruhigende Krankheitsepidemien. Und dann noch die neuen Kommunikationstechnologien, deren Auswirkungen auf unser Leben und unsere überlieferten Ordnungen wir erst zu ahnen beginnen.

Und all das passiert gleichzeitig. Da überrascht es kaum, dass diese Zeiten einer inneren Mutlosigkeit und Verzagtheit Auftrieb geben, dass Pessimismus und Defätismus zunehmen.

Auch wächst der Zweifel, ob bei uns selbst unsere Werte fest genug gegründet sind. Ob wir überhaupt noch wissen, was wir der aggressiven Infragestellung unserer Lebensweise und unseres Gesellschaftsmodells, ganz konkret unseres alltäglichen Lebens in einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft, entgegensetzen sollen und können.

Ich denke, wir haben allen Grund, uns solcher Mutlosigkeit, solcher Verzagtheit und solchen Zweifeln nicht hinzugeben.

Zunächst: Unübersichtlich, krisenhaft, verstörend – so ist die Menschheitsgeschichte, und so war sie immer.

Die angeblich übersichtlichen Jahrzehnte des Kalten Krieges waren, wenn sie es überhaupt waren, eine historische Ausnahme. Und nach den Zeiten von deutscher und europäischer Teilung und atomarer Bedrohung wollen wir uns auch nicht wirklich zurücksehnen. Vielleicht kann man die Prophezeiung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, das nach 1989 erreicht sei, geradezu umdrehen:

Die Auflösung der Blöcke von Ost und West, ihrer starren Konfrontation, bedeutete die Rückkehr der Geschichte – mit all ihren Folgen, die wir heute als etwas angeblich Neues zu erleben glauben, nicht zuletzt vermittelt durch die nach immer neuen Neuigkeiten dürstende und sich dabei immer schneller um sich selbst drehende Medienwelt.

Mein zweiter Punkt: Der Westen nimmt seine Herausforderungen an. Immer wieder.

Schon die Reformation war eine Antwort auf ein Suchen nach Orientierung in der unruhigen Zeit des ausgehenden Mittelalters. Luther fand den Ankerpunkt in der Freiheit des Christenmenschen.

Der Westen findet immer wieder diese Kraft, den entfesselten Mächten zu begegnen, die unsere Freiheit, unsere Vorstellungen von Selbstbestimmung und Menschenrecht bedrohen – auch heute:

Die Unübersichtlichkeit der globalisierten Finanzmärkte ordnen wir und machen dabei gute Fortschritte. Machtballungen in der Welt der Digitalisierung beginnen wir, zurzeit auf europäischer Ebene, aufzubrechen und politisch einzuhegen: Dem menschlichen Handeln eine Rahmenordnung zu geben – das geht auch heute.

Auf die gegenwärtige Herausforderung durch die russische Regierung reagiert Europa, reagiert der Westen einmütiger und entschlossener, als wir das lange erlebt haben. Was diese Herausforderung betrifft, denke ich überhaupt, dass wir aus der Geschichte einen eher beruhigenden Schluss ziehen können: Wie stark schien uns früher die Sowjetunion; und auf wie tönernen Füßen stand sie in Wahrheit; wie schnell brach sie am Ende zusammen.

Ich glaube, so ähnlich verhält es sich auch heute: Viele nehmen Russland unter der gegenwärtigen russischen Regierung als stark und in seiner Rücksichtslosigkeit und strategischen Vorgehensweise als überlegen wahr. Aber auf wie tönernen Füßen steht das doch auch heute: Gesellschaft und Wirtschaft Russlands haben bisher nicht wirklich Anschluss gefunden an die Globalisierung. Das Land leidet unter dem Bedeutungsverlust des Industriesektors und der zunehmenden Dominanz des Rohstoffsektors. Selbst zu Zeiten der Sowjetunion war die Wirtschaft vielfältiger. Das kann man allenfalls kurzfristig durch die populistisch-demagogische Mobilisierung nationalistischer Strömungen überspielen.

Das gegenwärtige russische Gesellschaftsmodell ist in der Welt – und auf Dauer auch bei den eigenen Bürgern – nicht attraktiv, weder politisch noch ökonomisch.

Der gegenwärtige Kurs hat keine Zukunft – eben weil er auf antiwestlichen Ideen beruht. Wir sollten nicht vergessen, dass es in Russland bereits in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste und Demonstrationen für einen Kurswechsel gab. Jetzt wurde für Frieden in der Ukraine demonstriert.

Die westlichen Ideen, zusammen mit unserer Wirtschaftsstärke, werden sich auch in dieser Auseinandersetzung als überlegen erweisen und durchsetzen.

Wir haben doch vor 25 Jahren schon einmal erlebt, wie eine damals im Westen weit verbreitete Haltung der Resignation und Kapitulation vor der Unfreiheit von der wirklichen Entwicklung beschämt wurde: Die Freiheitssehnsucht der Ostdeutschen hat über die Unfreiheit gesiegt.

Ich bin überzeugt, dass auch heute die Behauptung von der angeblichen strukturellen Menschenrechtsunfähigkeit bestimmter Gesellschaften fehl geht.

Heinrich August Winkler, der große Optimist des Westens, hat kürzlich die „Charta 08“ in Erinnerung gerufen, ein im Jahr 2008 von mehr als 5000 chinesischen Intellektuellen und Künstlern unterzeichnetes Menschenrechtsdokument. Winkler sieht die Chance, dass sich die wachsende chinesische Mittelschicht davon im Denken inspirieren und dann im Handeln leiten lässt.

Und wir selbst, in Europa, in Deutschland? Werden unsere Werte nicht schwächer, weil traditionelle Bindungen in den heute rasend schnellen Veränderungen schwinden, wie wir es in allen Teilen unserer Gesellschaft, auch in unseren Kirchen erleben?

Tanzen wir wieder um das goldene Kalb, wie es in den unglaublichen Übertreibungen und Hemmungslosigkeiten der Finanz- und Bankenkrise sichtbar wurde?

Wir müssen uns das fragen, wieder und wieder. Aber weil wir uns das fragen, brauchen wir nicht zu resignieren. Karl Popper hat dargelegt, dass freiheitliche Ordnungen genauso mit Fehlern behaftet sind, aber dass ihre Überlegenheit darin gründet, dass sie Fehler korrigieren können. Totalitäre Ideologen können das nicht.

Allerdings wissen wir auch, gerade als Christen, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat die Voraussetzungen, von denen er lebt, selbst nicht garantieren kann – nach der schon klassischen Formulierung von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Und da sind wir bei Christentum und Reformation.

Im eben gehörten Galaterbrief heißt es, dass uns Christus zur Freiheit befreit hat.

Auch daher kommt meine Zuversicht. Christen sind nicht naiv. Wir kennen die Fehlbarkeit, die Sündhaftigkeit des Menschen. Aber wir wissen, dass der Mensch von Gott berufen und befähigt ist, seine Welt in Freiheit und Verantwortung zu gestalten.

Deshalb hat auch niemand von uns im Westen das Recht, durch einen vorauseilenden Kulturrelativismus Menschen in anderen Kulturen die Fähigkeit abzusprechen oder gar ihnen die Möglichkeit zu nehmen, diese Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für sich zu gewinnen.

Wir sollten an der universellen Gültigkeit unserer Werte selbstbewusst festhalten. Frei zu sein von Verfolgung und Folter, nicht der politischen Willkür ausgeliefert, sondern dem für alle geltenden Recht unterworfen zu sein – das ist Menschenwunsch und Menschenrecht unabhängig von Kultur oder Religion.

In diesem Sinne und mit diesem Ziel sollte Deutschland heute in der Welt mehr Verantwortung übernehmen. Wir leben in einer Zeit, die von uns Deutschen mehr verlangt, als unsere Werte nur gesinnungsstark und ansonsten eher untätig zu propagieren.

Der verbreitete Wunsch in unserem Land, sich aus den Dingen da draußen in der Welt möglichst herauszuhalten, hat viel mit zwei Weltkriegen und mit den entsetzlichen Verbrechen der Nazibarbarei zu tun, vielleicht auch etwas mit der jahrzehntelangen Eingewöhnung in das eigentlich künstliche und unwirkliche Leben in den weltpolitischen Nischen zweier teilsouveräner deutscher Staaten.

Neulich hat ein kluger Historiker beobachtet, dass sich das wiedervereinigte Deutschland gegenüber der ihm zugefallenen neuen Bedeutung und Rolle in der Welt erstmals anders verhält als gewöhnlich in seiner Geschichte:

Deutschland kam in vielerlei Hinsicht oft sozusagen „zu spät“; es war im internationalen Vergleich oft ein Nachzügler, der sich besonders ins Zeug legte, um aufzuschließen zu anderen, vergleichbar großen Nationen.

Die Verantwortung des wiedervereinigten Deutschlands in der Welt nehmen wir eher widerwillig wahr. Hier scheinen wir wieder „spät“ dran. Die Debatte, die wir gegenwärtig darüber führen, ist dafür umso wichtiger. In der globalisierten, eng miteinander vernetzten und verwobenen Welt haben wir mit Ereignissen und Entwicklungen andernorts unweigerlich zu tun – ob uns das gefällt oder nicht. Und diese Ereignisse und Entwicklungen richten sich nicht automatisch nach unserer Tagesordnung in Deutschland und nach unseren Denkmustern und Interpretationen.

Wir haben also mehr Interessen als wir wahrnehmen. Viele spüren das noch nicht so recht in ihrem Alltag, weil es uns in Deutschland gegenwärtig so erstaunlich gut geht – trotz all der Krisen um uns herum.

Die Menschen in unserem Land sind nicht so unzufrieden. Und weil sie sich nicht unzufrieden fühlen, sind sie auch nicht so schnell grundlegend beunruhigt durch Geschehnisse außerhalb unseres Landes – eine Gelassenheit, die als Haltung in Krisen zweifellos eine Tugend sein kann, die jedoch nicht in Gleichgültigkeit umschlagen darf.

Hinzu kommt, dass wir als Gesellschaft älter werden und daher von außen eher nicht gestört oder gar geärgert werden wollen. Gegen „Stuttgart 21“ etwa hat viel gehobener, bürgerlicher Mittelstand in meinem Alter protestiert: Lieber keine Veränderung, so denken viele, bitte nichts Anstrengendes, Ungewisses.

Doch die Welt des 21. Jahrhunderts wird uns noch einiges an Veränderungen und Anstrengungen abfordern – ob wir es wollen oder nicht. Und unserer Verantwortung entledigen können wir uns nicht, schon gar nicht wegen unserer jüngeren Geschichte. Wir sind in diese Welt gestellt.

Die Kraft zur freiheitlichen Gestaltung ist uns gegeben. Wir haben keinen Grund zum Verzagen. Gerade weil die letzten Dinge nicht in unserer Hand liegen, sind wir als Christen aufgefordert, in dem Rahmen, der uns gegeben ist, verantwortlich zu handeln und die Welt zu gestalten, unseren christlichen Werten folgend, heute und morgen, mit Mut und Demut und in Zuversicht.“