Noch ist Europa nicht verloren



In Abwandlung der Anfangszeile der polnischen Nationalhymne danke ich meinem Weggefährten und heutigen Ministerpräsidenten Polens, Mateusz Morawiecki für seine Ehrlichkeit. Eine Ehrlichkeit, die ich an den polnischen Freunden und Nachbarn stets bewunderte. Eine Ehrlichkeit auch, die von dem Mut zeugt, der der polnischen Nation über schicksalhafte Jahrhunderte verhalf, zu überleben und wieder zu Größe zu erblühen. Es war dieser Mut, der Lech Walesa und Solidarnosc aufstehen ließ und der sowjetischen Gewaltherrschaft über Osteuropa den Garaus zu bereiten. Es war dieser Mut, der zum Aufstand der polnischen Heimatarmee gegen die Gewaltherrschaft der Wehrmacht im Sommer 1944 führte. Und es war dieser Mut, der Johannes Paul II in der Enzyklika Centesimus Annus bereits 1991 vor den Gefährdungen der freiheitlichen Ordnung durch Vergötzung nicht nachhaltigen Konsumismus warnen ließ. Deshalb hatte Polen auch eine besondere Erwartung an die Europäische Einigung. Polen erwartete neben wirtschaftlichen Vorteilen seiner Mitgliedschaft in der EU auch eine Politik der wehrhaften Freiheitsbewahrung.
Wenn Polens Regierungschef in der EU eine von Brüssel, Berlin und Paris dominierte Oligarchie zu erkennen glaubt, welche die durch Russlands Krieg gegen die Ukraine berührten Sicherheitsinteressen Polens ignoriere, dann muss man sich Gedanken machen. Wenn Polen dann noch Reparationen von Deutschland will, besteht Gesprächsbedarf. Für dieses Gesprächs will ich meine Sichtweise darlegen. Die EU ist keine Oligarchie, aber sie scheint mir gefangen im Niemandsland zwischen ökonomisch gewünschter Erweiterung und notwendiger, aber verweigerter Vertiefung. Russland führt einen Krieg gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung Europas, von der es sich absurderweise bedroht zu fühlen scheint. Darauf kann Europa nicht im „business as usual“-Modus reagieren. Mateusz Morawiecki trifft den Nerv, wenn er den europäischen Entscheider zuruft, „den Mut zu haben, in Kategorien zu denken, die der heutigen Zeit angemessen sind…wir brauchen eine tief greifende Reform, die das Gemeinwohl und die Gleichheit wieder an die Spitze der Grundsätze der Union stellt…sie wird nicht ohne eine Änderung der Perspektiven gelingen: es sind die Mitgliedstaaten und nicht die EU-Institutionen, die über die Richtung und die Prioritäten des Handelns der EU entscheiden müssen.“
Die Zukunft der Erweiterung findet geographisch im Osten statt und die Vertiefung hängt politisch von den Osteuropäern ab, somit geht es nicht ohne Polen. Polen hat – genau wie Frankreich – eine zentrale wirtschaftliche, geographische sowie sicherheitspolitische Bedeutung. Hier muss man aus der Not eine Tugend machen und im Weimarer Dreieck über Reformen nachdenken und im aktuell wichtigsten Politikfeld der EU, der Sicherheitspolitik, gemeinsam handeln. Das Trio muss Führungsverantwortung übernehmen und den Kern einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft bilden. Sie sollten de minimis gemeinsame sicherheitspolitische Leitlinien der drei Staaten erarbeiten, dem sich andere Europäer anschließen können. Mit mehr Mut könnten die drei auch ihre nationalen Streitkräfte operativ zu einer zusammenführen, über deren Einsatz gemeinsame entschieden wird. Da ein solcher Schritt kraft der französischen Nuklearteilstreitkraft zur Frage „force de frappe européenne?“ führen wird, sind die Beratungen darüber in den Staaten des Weimarer Dreiecks, der EU und der NATO unumgänglich.
Darf man im Herbst 2022 Fragen der nuklearen Abschreckung in Europa ansprechen? Weil Russland den Einsatz atomarer Waffen nicht mehr ausschließt, muss Europa diese Frage jetzt behandeln und einen Doppelbeschluss fassen: die eigene nukleare Abschreckung weiterentwickeln und gleichzeitig eine Plattform für Abrüstung von taktischen Atomwaffen und Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa initiieren. All das muss in den Rahmen der strategischen Planung der Nato eingebunden sein. Anders werden es Polen, die anderen Osteuropäer und demnächst die Skandinavier wegen ihrer unmittelbaren Wahrnehmung russischer Bedrohung auch nicht machen. So stärken europäische Verteidigungskapazitäten zugleich den lebensnotwendigen Zusammenhalt im atlantischen Bündnis und mittelfristig eine Abrüstung in Europa. Das fordert Vertrauen, und es fördert Vertrauen.
Unsere politische Energie muss bei solch existentiellen Themen auf die gemeinsame Zukunft gerichtet sein. Bei der Reparationsforderung widerspreche ich deswegen Polen klar. Nach den völkerrechtlichen und europäischen Regeln und Verträgen sind alle wechselseitigen Ansprüche erledigt. Das wissen die Polen, so wie wir Deutsche wissen, dass unsere Verantwortung für deutsche Schuld nicht endet. Ich habe mich daher früh für ein Mahnmal in Berlin für polnische Kriegsopfer eingesetzt. Aber Wiedergutmachung kann es schon im Wortsinn nicht geben. Jeder rechtliche Streit muss irgendwann enden. Im Zivilrecht ist das die Rechtskraft, auch die Verjährung. So – und nur so – stiftet rechtliche Ordnung Frieden. Rechtsfrieden nennen das Juristen. Gerechtigkeit bleibt ein Traum, aber Recht beendet Streit, stiftet Frieden. Das sollte Polen im innenpolitischen Wahlkampf nicht vergessen. Wir gehören zusammen in Europa, oder wie es der Europäische Rat beim Beitritt der osteuropäischen Mitgliedstaaten in die EU formuliert: „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Und zwar auf gleicher Augenhöhe. Deshalb gehört Polen zum Kern europäischer Führung. Und noch ist Europa nicht verloren.