„Niemand weiß, wie lang die Krise dauert“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Frankfurter Rundschau

Herr Schäuble, haben Sie prophetische Gaben?

Nein, das wäre auch schrecklich. Menschliche Freiheit begründet sich doch gerade darin, die Zukunft nicht vorhersagen zu können.

Aber man kann eine Entwicklung besser oder schlechter vorhersehen: Zu einer Zeit, als Angela Merkel die schwäbische Hausfrau zum Vorbild ihrer Finanzpolitik machte, hat der badische Abgeordnete Wolfgang Schäuble mehr keynesianisches Denken von der CDU verlangt. Nun folgt die Kanzlerin Ihrem Rat.

Es wird Ihnen nicht gelingen, mich in einen Gegensatz zur Bundeskanzlerin zu bringen. Angela Merkel hat auf dem CDU-Parteitag in Stuttgart eine eindrucksvolle Rede gehalten, wie sie das immer tut. Da ich mich viel mit Wirtschafts- und Finanzthemen beschäftigt und neben Volkswirtschaft auch ein bisschen Nationalökonomie studiert habe, schien mir frühzeitig klar, dass es sich im aktuellen Fall nicht um eine konjunkturelle Krise handelt. Wir haben hier eine ganz eigenartige Strukturkrise, zunächst einmal des weltweiten Banken- und Finanzsystems. Daraus sind Erschütterungen für die Realwirtschaften gefolgt. Das macht alle Voraussagen ungeheuer schwierig.

Aber klar ist: Der Staat muss massiv gegensteuern?

Den vordergründigen Streit zwischen einer nachfrageorientierten Theorie à la Keynes und einer angebotsorientierten Politik halte ich für Unsinn. In der Wissenschaft ist es weitgehend unumstritten, dass der Staat in einer so außergewöhnlichen strukturellen Krise versuchen muss, ein Stück weit das verloren gegangene Vertrauen zu ersetzen. Da geht es um Psychologie. Ökonomie ist ja eine Sozialwissenschaft, keine Naturwissenschaft. Der Mensch ist in seinem Verhalten nicht nach naturwissenschaftlichen Modellen vorhersehbar und kalkulierbar.

Hat die Bundesregierung unter Führung der Physikerin Merkel mit ihrem monatelangen Zögern nicht wertvolle Zeit vertan?
Nein. Die Bundesregierung hat mit dem zweiten Konjunkturpaket reagiert, das aus meiner Sicht eine angemessene Größenordnung von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hat. Ich fand es auch vernünftig, dies nicht als Schnellschuss im November oder Dezember zu machen, sondern bis in den Januar abzuwarten. Ob jede einzelne Maßnahme richtig ist, halte ich für zweitrangig. In einer so außerordentlichen Situation muss der Staat verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Wie weit das reicht, ist eine andere Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht noch eine weitere Runde vor uns haben. Keiner weiß im Augenblick genau, wie sich die Krise entwickelt. Deswegen sollte die Politik der Öffentlichkeit ganz klar sagen: Wir wissen es auch nicht. Es gibt nicht die eine richtige Lösung. Aus der Erfahrung spricht nur viel dafür, so zu handeln, wie wir jetzt entschieden haben.

Wenn Psychologie und Vertrauen so wichtig sind, handelt Ihr Wunsch-Koalitionspartner FDP doch fahrlässig, wenn er das Misstrauen gegen die Regierungspläne schürt und sie als „Sammelsurium“ und „Veräppelung“ der Bürger verspottet.

Zunächst einmal ist die Opposition nicht dafür zuständig, die Regierung zu loben. Ob die Wortwahl des FDP-Vorsitzenden Westerwelle so glücklich war, daran habe ich meine Zweifel. Die Krise ist ernst. Jeder Politiker sollte sich klar machen, dass die Menschen sich nicht so furchtbar für die üblichen politischen Spiele interessieren.

Kann die Union angesichts der absehbaren Lage des Staatshaushalts ernsthaft in den Wahlkampf ziehen mit dem Versprechen einer großen Steuerreform?

Die Steuerreform, die ich für notwendig halte, setzt einen Spielraum für Steuersenkungen voraus. Diesen Spielraum gibt es im Moment nicht. Ich rate meiner Partei daher zu sagen: Wenn wir diese schwere Krise überwunden haben, von der niemand weiß, wie lang sie dauert und wie tief sie geht, werden wir erst wieder solide Finanzpolitik machen können. Und dann muss auch eine Steuerreform angegangen werden. Man kann sich jetzt nicht auf ein Datum festlegen. Es schadet der Politik nicht, wenn sie sich in ihren programmatischen Aussagen nicht dümmer macht, als sie ist.

Sie reden von einer großen Krise und loben die Entscheidungen der großen Koalition. Sollte man angesichts der Dimension der Herausforderung nicht in dieser Konstellation weitermachen?

Große Koalitionen sind das Ergebnis von Wahlentscheidungen der Bürger. Nach meiner Überzeugung sind große Koalitionen nur eine Ausnahme, wenn das Ergebnis keine andere stabile Regierungsbildung ermöglicht. Ich habe nie die Auffassung vertreten, dass man zur Bewältigung großer Krisen große Koalitionen braucht. So lange wir eine große Koalition haben, machen wir unsere Arbeit. Punkt.

Wie soll das denn gehen: Gemeinsam regieren durch die Krise und gleichzeitig gegeneinander Wahlkampf machen?

Beide Teile der Bundesregierung sind sich natürlich darüber im Klaren, dass sie bei der Wahl Wettbewerber sind. Wir sind Menschen und sollten uns nicht zu Heiligen machen. Aber die Wählerinnen und Wähler erwarten von uns, dass wir als Regierungspartner unsere Arbeit machen. Wer nur an die nächste Wahl denkt und dabei erwischt wird, den bestraft der Wähler. Deswegen funktioniert die Zusammenarbeit alles in allem ganz gut.

Als Innenminister sind Sie für viele Sozialdemokraten allerdings ein veritables Feindbild.

Stimmt, das hat die SPD bewusst so entschieden. Sie werden von mir keine Stelle finden, an der ich die SPD angegriffen hätte. Die Sozialdemokraten hatten aber offenbar den Eindruck, der SPD-Anteil am Erfolg der gemeinsamen Regierung sei unzureichend und wollten angreifen. An die Bundeskanzlerin haben sie sich nicht herangetraut, weil sie zurecht befürchteten, dafür vom Wähler abgestraft zu werden. So ist die Wahl auf den Bundesinnenminister gefallen. Das ist ehrenhaft, hat aber nicht dazu geführt, dass wir unsere Aufgaben nicht erledigen konnten.

Ist Deutschland durch die große Koalition sicherer geworden?

Aufgabe der Politik ist es, unsere Verfassungsordnung zu gewährleisten, also all die Freiheiten, für die der Staat eine Schutzverpflichtung hat. Deswegen sind Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig. Diese Aufgabe muss nun unter sich ständigen verändernden Realbedingungen neu erfüllt werden. Ich würde deshalb nicht mit den Begriffen mehr oder weniger sicher hantieren. Wir sind in veränderten Bedrohungen in der Lage gewesen und haben auch Glück gehabt, ein hinreichendes Maß an Balance zu halten.

Aber die Gefahren sind gewachsen?

Ich habe jetzt gelesen, dass mich ein Kollege aus der großen Koalition ermahnte, ich solle nach der jüngsten Video-Terrorbotschaft „nicht immer dramatisieren“. Dabei hatte ich kein Wort zu der Sache gesagt. Meine stereotype Antwort auf die Frage, ob sich die Sicherheitslage damit verschärft hat, lautet seit Monaten: Nein, das verändert die Lage nicht, Deutschland ist bedroht, 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, wir brauchen uns aber auch nicht verrückt zu machen. Wir würden uns ja alle Lebensfreude nehmen, wenn wir ständig daran denken, dass wir morgen sterben könnten und irgendwann sterben werden.

Wie sollte die Gesellschaft mit dem latenten Risiko umgehen?

Ich bin für Gelassenheit. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass wir unsere Arbeit ernst nehmen. Ein Beispiel: Wenn es neue technologische Entwicklungen wie das Internet gibt, müssen die Sicherheitsbehörden die Möglichkeit haben, diese Techniken im Rahmen von Recht und Gesetz zu nutzen. Nicht mehr und nicht weniger. Im Einzelfall kann man wunderbar darüber diskutieren, was es bedeutet. Man darf allerdings nicht unseren Verfassungsstaat diffamieren als Überwachungsstaat, das ist Unsinn.

Besonders laut ist solche Kritik aber doch von der FDP zu hören. Glauben Sie, dass Sicherheitspolitik mit ihrem Wunschpartner für Sie einfacher wird?

In der Sicherheitspolitik stellen sich oft Fragen, die nicht immer einfach zu beantworten sind. Darüber muss man mit den eigenen Parteifreunden diskutieren, aber auch mit Koalitionspartnern, seien sie nun von der SPD oder der FDP. Mitunter muss man auch über die richtige Antwort ringen, am Schluss kommt man aber zu gemeinsamen Lösungen. Ich glaube, das Maß an Übereinstimmung zwischen Union und FDP ist im Allgemeinen höher als zur SPD.

Nach der Hessen-Wahl wird es für die große Koalition erheblich schwieriger, Gesetze durch den Bundesrat zu bringen. Sie wollen deshalb die Abstimmungsregeln so ändern, dass in der Länderkammer einfache Mehrheiten genügen. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie das durchsetzen können?

In dieser Legislaturperiode werden wir dieses Problem nicht mehr lösen können. Die Diskussion über den Vorschlag ist aber notwendig, und ich habe hier viel Zustimmung erfahren. Es kann doch auf Dauer nicht sein, dass sich im Zweifel die Mehrheit der Bundesländer im Bundesrat enthält. Die Länder haben das Recht und die Pflicht, an der Gesetzgebung des Bundes mitzuwirken. In der Landespolitik müssen sich die Koalitionspartner schließlich auch einigen. Wieso sollte ihnen das im Bundesrat nicht gelingen? Als Bundesinnenminister werde ich mich durch die üblichen Reflexe nicht davon abhalten lassen, Debatten anzustoßen, von denen ich überzeugt bin, dass sie geführt werden müssen.

Interview: Karl Doemens, Steffen Hebestreit und Thomas Kröter