Migration, Integration und Religion



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Vortragsreihe ?Die Sächsische Ausländerbeauftragte lädt ein? in Dresden

Die Globalisierung verändert unser Leben in einem atemberaubend schnellen Tempo. Moderne Kommunikationsmittel, grenzüberschreitende Mobilität und offene Märkte bringen uns neue Freiheiten. Man kann sich beispielsweise als Softwareexperte überlegen, ob man nächstes Jahr ins Silicon Valley geht, ins badische Walldorf zu SAP oder lieber nach Bangalore. Man kann online für hungernde Kinder in Niger spenden oder Wein vom französischen Winzer bestellen, man kann sich Blogger-Kommentare zum amerikanischen Wahlkampf ansehen oder Fotos, die das Mitglied eines Trachtenvereins vom letzten Vereinsausflug ins Internet gestellt hat.

Mit diesen vielen Freiheiten wachsen auch die Unsicherheiten: Wir kommen leichter zurecht, wenn wir uns zwischen einer begrenzten Zahl von Optionen entscheiden können. In der globalisierten Welt haben sich aber die Möglichkeiten vervielfacht. Wir haben es mit unserem endlichen Fassungsvermögen und begrenzten Zeitbudget zunehmend schwerer, weil wir uns zwischen fünfzig oder hundert Alternativen entscheiden müssen. Deshalb sind Elemente, die uns Halt und Orientierung geben, wichtig. Das gilt für das Leben eines Einzelnen genauso wie für das Leben in der Gemeinschaft. In einer Zeit vieler Veränderungen wird uns die Notwendigkeit solcher Elemente des Halts und der Orientierung noch bewusster.

Die Regelungskompetenz unseres freiheitlich verfassten, demokratischen Staates ist auch hier sehr begrenzt und sie muss es sein. Es ist nicht Aufgabe des Staates, den Bürgern vorzuschreiben, was sie mit ihren Freiheiten machen sollen. Der Staat soll lediglich Freiräume schützen und einen Ordnungsrahmen bereitstellen, in dem Freiheit sich entfalten kann.

Zu dem, was Halt und Orientierung gibt, gehören Arbeit und Familie, Werte und Überzeugungen und auch Religion. Aus solchen Quellen speist sich das Bewusstsein eigener Identität, der Sinn für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Ich bin überzeugt, dass Religion im 21. Jahrhundert wichtig bleiben wird. Religion schafft besonders tiefe und dauerhafte Verbindungen zwischen Menschen. Auch ist Religion eine reiche Quelle für persönliches Engagement, ohne das ein demokratisches Gemeinwesen nicht auskommt. Jede Gesellschaft braucht ein Orientierungswissen über sich selbst und vor allem auch über das Unverfügbare für ihr Zusammenleben. Dafür wiederum ist Religion unverzichtbar. Wenn wir wissen, woher wir kommen, wer wir sind und was uns wichtig ist, haben wir einen Kompass, mit dem wir uns auch in unübersichtlichem Gelände zurechtzufinden können.

Selbstbilder, Gefühle und Werte, aus denen Identität sich ergibt, sind zu einem hohen Grad kulturell und religiös geprägt. Der kulturelle und religiöse Austausch hat heute in der globalisierten Welt stark zugenommen. Er schärft unser Bewusstsein für Vielfalt. Aber: Vielfalt ist nur dann Bereichung, wenn sie nicht zum unverbundenen Nebeneinander oder gar zur Bildung von Parallelgesellschaften führt. Also funktioniert Vielfalt nur dann, wenn wir eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens haben, auf der einerseits niemand seine eigene Identität aufgeben muss, andererseits aber unsere Identitäten offen genug sind, um uns aufeinander einzustellen und einzulassen. Deswegen ist Vielfalt in der Einheit das Prinzip jeder föderalen Ordnung.

In unserer globalisierten Welt gehört der Kontakt mit anderen Kulturen und Religionen, gehören Migration und Integration zur alltäglichen Erfahrung. Unsere Welt ist durchlässiger und mannigfaltiger geworden. Die Mobilität der Menschen hat national wie international enorm zugenommen. Globaler Handel, Internet, Satellitenfernsehen und internationaler Flugverkehr lassen die Welt enger zusammenrücken. Dadurch gewinnt Zuwanderung noch einmal zusätzlich an Bedeutung. All die Fragen, die damit einhergehen, gewinnen neue Dringlichkeit.

Zuwanderung bietet viele Chancen. Der Kontakt mit anderen Kulturen öffnet neue Horizonte und schafft Raum für neue Ideen. Aber natürlich ist Zuwanderung auch Herausforderung ? für die aufnehmende Gesellschaft so sehr wie für die Migranten selbst. Ich bin überzeugt, dass wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gerade unter dem Gesichtspunkt von Migration und Integration stärker im Blick behalten müssen. Wir brauchen bei allen ? zunehmenden ? Unterschieden einen gemeinsamen Nenner, eine übergreifende Identität, die von Selbstbewusstsein gleichermaßen geprägt ist wie von Toleranz und Offenheit. Beides gehört zusammen: Wer sich seiner eigenen Identität nicht bewusst ist, ist auch zur Toleranz gegenüber anderen nicht wirklich fähig.

Viele Menschen verlassen ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen politischer Instabilität und dergleichen mehr. Aber es gibt auch religiös bedingte Migration. Sie ist für unser Land kein neues Phänomen. Religiöse Zuwanderung steht ganz am Anfang der staatlich gesteuerten Zuwanderungspolitik in Deutschland. Vor über 300 Jahren öffnete die pragmatische Einwanderungspolitik des Großen Kurfürsten ? Friedrich Wilhelm von Brandenburg ? Preußen für die Hugenotten, die als Glaubensflüchtlinge aus Frankreich kamen. Die Grundlage der Aufnahme bildete das ?Edikt von Potsdam? von 1685. Es sprach nicht nur ein freundliches Asyl aus, sondern enthielt ein ganzes Programm zur Integration der eingewanderten Flüchtlinge.

Insgesamt kamen über 40.000 Hugenotten nach Brandenburg-Preußen, Sachsen und in andere deutsche Gebiete. Hier in Dresden haben sie eigene reformierte Kirchengemeinden errichtet, die noch heute bestehen. Die Hugenotten sind ein Musterbeispiel für erfolgreiche Integration. Sie haben unser Land wirtschaftlich, kulturell und intellektuell bereichert. Hugenottischer Herkunft sind beispielsweise Theodor Fontane oder der Gartenarchitekt Lenné, der Teile der Bürgerwiese in Dresden entworfen hat. Nicht zuletzt haben die Hugenotten so ur-berlinerisch anmutende Speisen wie die Bulette nach Preußen gebracht und dort heimisch gemacht. Ähnlich positiv verlief damals auch die Ansiedlung der Waldenser im süddeutschen Raum, die ebenfalls aus Frankreich vertrieben worden waren. Übrigens: Die Waldenser haben die Kartoffel nach Süddeutschland gebracht.

Auch heute suchen viele Flüchtlinge bei uns Zuflucht, weil ihnen in ihrer Heimat wegen ihrer Religion Mord, Gewalt und Verfolgung drohen. Das ist der Grund, warum wir uns um die verfolgten Christen im Irak bemühen müssen. Dafür haben wir eine Verantwortung. Ich glaube, dass Europa zur Lösung dieses dramatischen Flüchtlingsproblems einen Beitrag leisten muss. Am wichtigsten ist es, diesen Menschen in den Nachbarregionen zu helfen, in der sie Aufnahme gefunden haben. Aber wir dürfen die Aufnahme eines Teils dieser Flüchtlinge nicht völlig ausschließen.

Für religiös bedingte Zuwanderung und auch für die anderen Formen von Zuwanderung gilt: Wenn Migration gelingen soll, müssen wir auch über das Thema Integration sprechen. Dabei müssen wir uns fragen: Was heißt Integration eigentlich? Was erwarten wir von den Zugewanderten und was können sie von uns erwarten? Integration bedeutet jedenfalls nicht Assimilation, also das Aufgehen in der neuen Kultur unter Aufgabe der eigenen Wurzeln. Ein einheitliches, althergebrachtes deutsches Lebensmodell gibt es in unserer Welt des permanenten Wandels so auch gar nicht mehr.

Integration setzt nicht voraus, dass Zuwanderer ihre eigene Herkunft und Religion gewissermaßen beim Betreten des neuen Landes an der Garderobe abgeben müssen. Vielmehr ist Integration für Zuwanderer wie auch für das Aufnahmeland die Chance, zu dem, was man schon hat, etwas Neues hinzuzugewinnen. Aber das geht nur, wenn sich die Zuwanderer auf die alltäglichen Lebensbedingungen und Wertevorstellungen ihrer neuen Heimat einlassen. Integration bedeutet auch, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wie man in der Gesellschaft zusammenlebt.

Jede stabile, freiheitliche Ordnung braucht ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und gemeinsamen Vorstellungen davon, wie man lebt und wie man zusammenlebt. Je mehr Gemeinsamkeit auf diese Weise vorhanden ist, umso weniger brauchen wir Reglementierung, Zwang oder auch Bürokratie.

So ist Integration eine der großen Aufgaben der Politik in unserer Zeit und der offenen Gesellschaft insgesamt geworden. Sie kann nur als wechselseitiger Prozess gelingen. Sie setzt die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft voraus. Aber sie erfordert auch, dass die Zuwanderer sich zugehörig fühlen wollen und dass sie bereit sind, sich unsere Werte anzueignen und Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Integration ist keine Einbahnstraße. In der Regel werden die Zugewanderten den größeren Teil des Weges gehen müssen, weiter als die Aufnahmegesellschaft. Prinzipiell sind aber beide Seiten gefordert.

Aufgabe der Aufnahmegesellschaft ist es, Integration von Zuwanderern zu fördern. Das geschieht durch konkrete Maßnahmen und Angebote, wie beispielsweise Sprachkurse. Dazu gehört, dass Zuwanderer, die sich seit einer gewissen Zeit rechtmäßig in unserem Land aufhalten, auch das Recht auf dauerhaften Aufenthalt haben oder auch darauf, unter bestimmten Voraussetzungen die Staatsangehörigkeit erwerben zu können, wenn sie es wollen.

Die offene Gesellschaft ist eine Gesellschaft gleicher Chancen. Am nachhaltigsten fördern wir Integration, wenn wir Zugewanderten Chancen eröffnen und ihre Leistungen anerkennen. Dazu gehören vor allem die Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg, auf Bildung und Arbeit wie auch die Chance auf Teilhabe an der öffentlichen Diskussion.

In diesem Sinn bietet eine freiheitliche Wirtschaftsordnung nach meiner Überzeugung die besten Integrationsvoraussetzungen. Denn wo es auf Leistung und Wettbewerb ankommt, wo es Möglichkeiten zur Entfaltung der individuellen Stärken und Neigungen gibt, hat Integration gute Erfolgsaussichten. Auch deshalb brauchen wir einen freien und flexiblen Arbeitsmarkt, der für alle Chancen bietet. Weil es unter den Zugewanderten insbesondere der zweiten und dritten Generation noch viele Geringqualifizierte gibt, müssen wir in unserer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik auch darauf achten, dass wir unsere Regelmechanismen nicht so starr machen, dass sie die Chancen auf Integration negativ beeinflussen.

Eines muss für die Aufnahmegesellschaft auch klar sein: Jede Form von Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus rüttelt an den Grundpfeilern einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass sich die Feinde unserer Ordnung in der Mitte unserer Gesellschaft einnisten.

Wir haben in Deutschland aktuell keine hohe Zahl von Zuwanderern. Unsere Probleme in Deutschland rühren im Wesentlichen daher, dass wir bei den Zuwanderern, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem aus ländlichen Teilen der Türkei in die damalige Bundesrepublik kamen, in der Generationenfolge zunehmende Integrationsdefizite haben. Viele der damaligen Zuwanderer hätten sich wohl auch in der modernen Türkei, zum Beispiel in Ankara oder Istanbul, nicht so ohne weiteres zurechtgefunden. In den folgenden Jahrzehnten kamen die Familien im Wege des Familiennachzugs. In den neunziger Jahren fanden dann viele Bürgerkriegsflüchtlinge muslimischen Glaubens aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens bei uns Aufnahme. Insgesamt hat die Integration der rund 3,5 Millionen Muslime in Deutschland nicht den Grad an Normalität erreicht, den wir uns wünschen würden.

Die Zuwanderer der dritten Generation sind schlechter integriert als die erste Generation. Dieses Problem ist übrigens in Frankreich bei völlig anderen Strukturen der Migration ganz ähnlich. Die bestehenden Defizite könnten wir durch eine stärkere Begrenzung der gegenwärtig ohnehin niedrigen Zuwanderung nicht beheben. Deswegen müssen wir unsere Integrationsbemühungen verstärken.

Integration besteht immer aus Fördern und Fordern. Nicht nur die Aufnahmegesellschaft, auch die Zuwanderer müssen Integration wirklich wollen. Alle Bemühungen unsererseits können nur Früchte tragen, wenn die Zuwanderer selbst ein Interesse am Miteinander haben und dies auch zeigen. Also darf und muss die aufnehmende Gesellschaft verlangen, dass Zugewanderte sich bemühen, bestimmte Regeln und Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, kennen zu lernen und zu akzeptieren. Sie müssen auch eigene Anstrengungen unternehmen, unsere Sprache lernen und Bildungsabschlüsse erwerben. Die Eltern tragen hier eine besondere Verantwortung für ihre Kinder.

Die Generation der Deutschen, die im 18. und 19. Jahrhundert nach Amerika gegangen sind, konnte nicht in die alte Heimat fliegen und sie hatten kein deutsches Fernsehen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als irgendwie in der neuen Heimat zurechtzukommen. Heute ist das durch die moderne Entwicklung der Kommunikationsindustrie anders geworden. In Deutschland etwa kann man über 40 türkische Fernsehsender empfangen. Es gibt türkischsprachige Zeitungen. So entstehen Parallelgesellschaften und verschärfen sich die Defizite.

Nach einer Studie, die das Meinungsforschungsinstitut Allensbach durchgeführt hat, ist der Anteil der Deutschen, die meinen, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland, in den letzten 25 Jahren immerhin von 79 auf 53 Prozent zurückgegangen. Dass aber immer noch die Hälfte der Bevölkerung den Ausländeranteil in Deutschland für zu hoch hält, zeigt, dass es vielfach Vorbehalte gegenüber Zuwanderern gibt.

Wir haben immer noch ein Bild von Muslimen und vom Islam, das relativ pauschal Gewalttätigkeit mit dieser Religion stärker verbindet als mit anderen Religionen, zum Beispiel dem Buddhismus. Daran ist der islamistische Terrorismus natürlich nicht ganz unschuldig. Daraus entsteht der Eindruck, dass in der westlichen Staatengemeinschaft ? das betrifft nicht nur Deutschland ? die Sichtweise dominiert, der Islam passe nicht in unsere Welt. Da es auch in den islamisch geprägten Ländern mehr und mehr politische Kräfte gibt, die dasselbe genau andersherum sagen, braucht man sich über ein gegenseitiges Aufschaukeln der Vorurteile nicht zu wundern.

Umgekehrt muss man sich nicht wundern, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland, die aus muslimisch geprägten Ländern stammt, darüber klagt, dass sie sich ausgrenzt und pauschal abgelehnt fühlt. Besonders bedenklich ist, dass sich viele Muslime ganz unabhängig von ihrer persönlichen Einstellung zur eigenen Religion und unserer Gesellschaftsordnung ausgegrenzt fühlen ? gerade auch Muslime, die sich selbst gar nicht als religiös definieren und in unserer Ordnung fest verankert sind.

Solche beiderseitigen Vorurteile sind für die Integration ein erhebliches Hindernis. Deswegen sollten Muslime gegen Fundamentalisten in den eigenen Reihen entschiedener vorgehen, ihnen die Unterstützung entziehen und nicht zulassen, dass sie als Repräsentanten der Gesamtheit der Muslime wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite dürfen wir, also die Nicht-Muslime, uns nicht von Negativbeispielen blenden lassen, die in den Medien zum Teil hochgespielt werden und ein verzerrtes Bild entstehen lassen. Die weit überwiegende Mehrheit der Muslime in unserem Land sind genauso liebevolle Familienväter, verlässliche Kolleginnen und gute Nachbarn wie die weit überwiegende Mehrheit der Nicht-Muslime in unserem Land.

Weil wir die genannten Integrationsdefizite haben, hat die Bundeskanzlerin ihre Behebung und Bekämpfung zu einem Schwerpunkt dieser Legislaturperiode erklärt. Die vielen Initiativen, die wir angeschoben haben, zeigen, dass dies kein Lippenbekenntnis ist. Maria Böhmer ist als Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Integration und Flüchtlinge bewusst im Bundeskanzleramt angesiedelt, weil dies eine ressortübergreifende Aufgabe ist, eine Aufgabe, die auch nicht nur in der Verantwortung des Bundes liegt. Die Länder haben hier mindestens genauso viel, wenn nicht noch mehr Aufgaben. Vieles wird auch in den Kommunen geleistet. Das Meiste kann gar nicht durch die Politik erreicht werden, sondern durch die Zivilgesellschaft insgesamt ? Vereine, Sport, Kirchen und dergleichen. Alle diese Aktivitäten regt Frau Böhmer an und koordiniert sie. Übrigens war die quantitativ wahrscheinlich wichtigste Integrationsveranstaltung der letzten Jahre, die wir in Deutschland hatten, die Fußball-Weltmeisterschaft vor zwei Jahren. Sie hat auch gezeigt, dass Patriotismus und Integration zusammengehören und keine Gegensätze sind.

Integration geschieht nicht automatisch, sondern der Staat und die Gesellschaft müssen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Deswegen haben wir ein Zuwanderungsgesetz, das Instrumente für die Steuerung von Zuwanderung zur Verfügung stellt und die Integration fördert, und wir haben klar definiert, dass Integration als Voraussetzung für den dauerhaften Aufenthalt zu begreifen ist. Wir haben auch Dialogstrukturen geschaffen, damit wir miteinander reden können. Bund, Länder, Kommunen und Vertreter der Zivilgesellschaft, zu denen auch Migrantenverbände gehören, beteiligen sich hieran.

Im Bundesinnenministerium als dafür zuständigem Ministerium haben wir ein Integrationskonzept erarbeitet. Es beginnt mit Maßnahmen der Vorintegration in den Heimatländern. Familiennachzug setzt beispielsweise voraus, dass Zuwanderungswillige ein Minimum an Sprachkenntnissen bereits erwerben, bevor sie hierher kommen. Das verbessert die Chancen, dass sie mit der aufnehmenden Gesellschaft in eine echte Beziehung treten können. Für die hier lebenden Zugewanderten stellt der Bundeshaushalt dieses Jahr 155 Millionen Euro für Integrationskurse bereit, die insbesondere der Vermittlung von Sprachkenntnissen dienen. Wir haben es innerhalb weniger Jahre geschafft, dieses Angebot flächendeckend bereitzustellen. Die Integrationskurse vermitteln auch Grundkenntnisse über unser Land, die wichtig sind, wenn man hier lebt. Wir haben mit der Neufassung der Integrationskursverordnung auch Verbesserungsvorschläge umgesetzt, so dass Integrationskurse noch flexibler den unterschiedlichen Bedürfnissen in den einzelnen Ländern und Kommunen gerecht werden können.

Wir sollten mit Institutionen und Vereinen, in denen sich Migranten organisiert haben, über Möglichkeiten der Kursorganisation auch durch Migrantenverbände selbst diskutieren. Damit könnten wir unsere Zielgruppe noch besser erreichen. Auch Schulen, Kindertagesstätten und Einrichtungen der Jugendhilfe müssen wir noch stärker auf die Integrationskurse aufmerksam machen.

Auch wenn durch Zuwanderung die religiöse Vielfalt in unserem Land zugenommen hat, ist Deutschland von einem christlich-jüdischen Selbstverständnis geprägt. Die christlichen Kirchen erreichen nach wie vor einen erheblichen Teil der Bevölkerung ? an den Wochenenden sind immer noch mehr Menschen im Gottesdienst als in den Fußballstadien ?, und ihre Wortmeldungen zu den Themen unserer Zeit finden auch Gehör. Ich wünsche mir, dass die Rolle der Kirchen auch in der Zukunft wichtig bleibt. Sie sind für die Nachhaltigkeit unserer freiheitlichen Ordnung eine unverzichtbare Ressource.

Die Moschee in Dresden und die Dresdner Frauenkirche mögen als Gotteshaus für einen Muslimen und für einen Protestanten eine vergleichbare Bedeutung haben. Aber die Dresdener Frauenkirche hat nicht nur für Dresden, sondern auch für unser Land zusätzlich eine besondere historische und kulturelle Bedeutung.

Unsere Kultur und Gesellschaft, unsere Art zu leben, unsere Werte und unser Rechtssystem haben christliche Wurzeln und Traditionslinien, unabhängig von der Pluralisierung der religiösen Landschaft. Wer in Deutschland heimisch werden will, muss diese Wurzeln kennen und respektieren.

Die christlichen Kirchen gehören zu den ersten gesellschaftlichen Kräfte, die die Notwendigkeit der Integration von Zuwanderern erkannt haben. Die Kirchen haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit großem Engagement für Zuwanderer, Asylsuchende und Flüchtlinge eingesetzt. Mit vielen Projekten ? einige fördern wir auch staatlich ? pflegen die Kirchen den interreligiösen Austausch mit Andersgläubigen. Unsere Kirchen haben sich hier als verlässliche Partner erwiesen.

Aber religiöse Identität kann auch dazu führen, dass sich Angehörige einer Religion von anderen ausgegrenzt fühlen. Wir haben das in unserer Geschichte hinreichend erlebt und wir sollten bei allen Debatten nicht vergessen, zu welchen Auswüchsen der konfessionelle Gegensatz in Deutschland in der Vergangenheit geführt hat. Die Entstehung eines säkularisierten Staates in Deutschland und Europa hat auch damit zu tun, dass die religiösen Gegensätze unüberbrückbar schienen und das Funktionieren politischer Ordnung fast unmöglich machten. Die Trennung von Staat und Religion hat das friedliche Zusammenleben ermöglicht. Wir verlangen heute von den Muslimen in Deutschland, dass sie etwas in viel kürzerer Zeit nachholen, als wir selbst gebraucht haben, bis wir es mit vielen Irrungen und Wirrungen schließlich geschafft haben. Aber deshalb ist es ja nicht falsch, dass wir diese Erfahrung als Grundlage für freiheitliches, offenes und toleranten Zusammenleben weitervermitteln.

Das geschieht etwa bei der Deutschen Islam Konferenz, die ich ins Leben gerufen habe. Unser Staates ist nach der Freiheitsordnung unseres Grundgesetzes zur religiösen Neutralität verpflichtet. Wenn Muslime analog zu den christlichen Kirchen Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht im Sinne von Artikel 7 unseres Grundgesetzes anbieten wollen, also als Unterricht, der die Grundlagen von Glaubensinhalten vermittelt, haben sie darauf grundsätzlich einen Anspruch.

Wir haben nun einen auf längere Sicht angelegten Dialog angefangen, um die Teilhabe von Muslimen an unserem erprobten, historisch gewachsenen, insgesamt bewährten Kooperationsmodell von Staat und christlichen Religionsgemeinschaften zu ermöglichen. Das ist der eigentliche Ausgangspunkt der Islamkonferenz.

Dazu gehört natürlich, dass wir zur Kenntnis nehmen und es auch aussprechen, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist. Damit müssen wir umgehen. Das ist nicht immer ganz einfach, es gibt aber keine Alternative. Ralph Giordano hat mir einmal in einem Streitgespräch, das in der FAZ abgedruckt ist, vorgeworfen, dass ich die Probleme verharmlosen würde. Das ist nicht richtig, ich sehe durchaus die Probleme. Vor allem aber leite ich daraus eine Verantwortung her, dass wir diese Probleme nach den Regeln unserer bewährten Freiheitsordnung lösen müssen. Da konnte Herr Giordano nicht wirklich widersprechen.

Unser Verständnis des Verhältnisses von Staat und Religion ist durch die Erfahrungen mit den christlichen Kirchen geprägt. Aber der Islam ist nicht als Kirche organisiert. Das hat weit reichende Konsequenzen. Zum Beispiel kann der freiheitliche Verfassungsstaat Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht an staatlichen Schulen nicht selbst durchführen. Dann hätten wir nämlich eine Staatsreligion. Genau das wollen wir aber nicht. Also braucht der Staat einen Partner aus der Religionsgemeinschaft. Bei den Katholiken und Protestanten sind das die Kirchen. Einen solchen Partner brauchen wir auch bei den Muslimen. Ein einfacher Zusammenschluss der bestehenden Verbände reicht dafür nicht: Ein weltlicher, organisierter Interessensverband ist noch keine Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes, weil der bekenntnishafte Charakter fehlt. Der Ausgangspunkt für eine flächendeckende Organisation ? es können auch mehrere sein ? müssten eher die Moscheevereine sein. Der Religionsunterricht müsste sich natürlich an die Regeln unserer Verfassung halten. Verantwortlich für die Lehrpläne, Ausbildung für Lehrpersonal und dergleichen wäre unserer Verfassungsstaat. Auch die Religionsfreiheit entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Die Islamkonferenz dient aber nicht nur dem Aufbau einer Partnerschaft für den Religionsunterricht. Es geht im Grunde um ein Lernen auf beiden Seiten ? der Muslime und der deutschen Mehrheitsgesellschaft ?, um einen Abbau von Befangenheit und Vorurteilen und darum, dass beispielsweise auch Muslime Vielfalt und Pluralismus respektieren, die es innerhalb des Islam und auch anderswo gibt.

Auch Streit gehört zur Sache. Demokratie bedeutet immer auch unterschiedliche Meinungen. Die verschiedenen Teilnehmer der Islamkonferenz aus der Vielfalt muslimischen Lebens in Deutschland vertreten ganz unterschiedliche Positionen. Aber sie können trotzdem im Sinne einer offenen Demokratie vernünftig miteinander reden und streiten. Überhaupt beginnt Toleranz dort, wo wir zur Kenntnis nehmen, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Hier sind echte Fortschritte zu verzeichnen.

Bei aller Toleranz gibt es trotzdem verbindliche Regeln. Die Rechts- und Werteordnung unseres Grundgesetzes ist nicht verhandelbar. Deswegen diskutieren wir in der Islamkonferenz intensiv darüber, was unsere Ordnung des Grundgesetzes beinhaltet. Dazu gehört, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und dass Koedukation an staatlichen Schulen die Regel ist.

Vor ein paar Wochen ist in Potsdam eine Theaterfassung der ?Satanischen Verse? von Salman Rushdie aufgeführt worden. Vor ein paar Jahren hätten die meisten Polizei- und Sicherheitsexperten größte Bedenken gehabt. Aber es blieb alles ruhig und gelassen. Auch die Muslimverbände haben keine Aufregung aufkommen lassen.

Auch die Zusammenarbeit der Verbände mit den Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von islamistischen Terroristen in unserem Land kommt in Gang, wenngleich noch manches verbesserungsfähig ist: Es gibt gerade bei Minderheiten, die sich unterprivilegiert oder ausgegrenzt fühlen, eine starke Solidarität untereinander. Das ist nicht auf Muslime beschränkt. Trotzdem begreifen die Muslime in Deutschland sehr wohl, dass es im Interesse gelingender Integration ist und damit im Interesse der Lebenschancen der Muslime in unserem Land, dass nicht der Eindruck entsteht, als würde ihre große Mehrheit mit der kleinen Zahl fundamentalistischer, gewaltbereiter Islamisten übereinstimmen.

Wo wir Integrationsprobleme haben, müssen wir sie lösen. Vielfalt ist eine Bereicherung. Deshalb soll gelingende Integration gerade nicht auf einen Einheitsbrei hinauslaufen. Auch religiöse Bedeutung heißt heute nicht die Reduzierung auf eine Religion, sondern Erschließen und Nutzbarmachen der Tiefenschärfe religiöser Sichtweise und religiöser Bindung für die Friedlichkeit einer freiheitlich organisierten Ordnung.

Je besser uns das gelingt, umso größer werden die Stabilität, die innere Sicherheit, die Freiheitlichkeit und der Lebenswert in unserem Lande sein. Je besser uns das gelingt, umso eher leisten wir einen Beitrag, um die globalen Auseinandersetzungen zu entspannen. Wir wollen eine Welt der Toleranz, Offenheit und des Respekts gegenüber anderen bei einem gleichzeitigen Bewusstsein, dass ein Mindestmaß von Zusammengehörigkeit notwendig ist. Leben beruht auf dem Austausch mit anderen. Dazu müssen wir Vielfalt und Einheitlichkeit richtig ausbalancieren.