„Im Fußball steckt so viel positive Kraft“



Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble in einem „DFB.de-Gespräch der Woche“ im Internetangebot des Deutschen Fussball-Bundes (DFB)

Frage: Herr Dr. Schäuble, kein anderer deutscher Politiker war vor und während der WM 2006 so intensiv mit diesem Turnier beschäftigt wie Sie als Bundesinnenminister und stellvertretender Vorsitzender des OK-Aufsichtsrates. Was ist zwei Jahre danach aus Ihrer Sicht noch spür- und erkennbar?

Dr. Wolfgang Schäuble: Als derjenige, der innerhalb der Bundesregierung auch für Integration zuständig ist, kann ich sagen, dass es vermutlich kein Ereignis wie diese Weltmeisterschaft gegeben hat, das so ungeheuer viel für die Verbesserung des Zusammenlebens von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft in unserem Land bewirkt hat. Dass daneben unsere Sicherheitsbehörden zusammen mit den Polizeien der Länder, der Feuerwehr oder dem Rotes Kreuz die hohen Anforderungen bei einem solchen Großereignis perfekt erfüllt haben, und zwar nicht nur mit deutschem Perfektionismus, sondern mitgefeiert und gleichzeitig Sicherheit garantiert haben, das ist sicherlich auch ein Eindruck, der dauerhaft nachwirkt. Und dass annähernd 350 Polizisten aus allen europäischen Ländern in ihren Uniformen in Deutschland im Einsatz waren, war vorher undenkbar. Heute ist es selbstverständlich, wird dementsprechend auch bei der EM 2008 in Österreich und der Schweiz praktiziert und ist ein Symbol für die Überwindung engen nationalstaatlichen Denkens in Europa. Das ist schon mal eine ganze Menge…

Frage: …aber wohl noch nicht alles. Wie steht es zwei Jahre danach um das während der WM 2006 im Ausland so ungemein positiv veränderte Deutschland-Bild?

Schäuble: Mit dem Abstand von fast zwei Jahren sind die Farben sicherlich nicht mehr ganz so schillernd. Doch der Eindruck im Ausland ist nach wie vor, dass wir wirklich tolle Gastgeber waren. Das Gerede von der Service-Wüste Deutschland ist seitdem verstummt. Durch die Weltmeisterschaft 2006 ist das Ansehen unseres Landes nachhaltig verbessert worden. Ein friedliches, fröhliches, gut gelauntes, nicht überhebliches und mit sich im Reinen befindliches modernes Deutschland ? daran erinnern sich viele in der Welt noch sehr gut. Zum Schluss, so sage ich es mal mit meinem alemannisch-spöttischen Humor, hatten sogar wir selbst das Gefühl, dass wir uns mögen können. Das alles zeigt, welch ungeheure Bedeutung der Fußball für unser Land und unsere Gesellschaft hat.

Frage: Hat sich die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs in Deutschland seitdem noch gesteigert?

Schäuble: Dass der Fußball in Deutschland einen ganz eigenen hohen Stellenwert hat, wissen wir nicht erst seit der WM 2006. Wer die gesellschaftspolitische Geschichte der Nachkriegszeit schreibt, kommt an einem markanten Datum nicht vorbei, einem bestimmten Tag im Juli 1954. Um es mal mit einer Anekdote aus meiner Familie zu erzählen: Wann immer wir später auf der Autobahn an Bern und der Ausfahrt Wankdorf vorbei gefahren sind, wussten unsere Kinder, jetzt kommt vom Papa gleich die Geschichte, wie wir damals Weltmeister wurden. Also, der Fußball ist etwas ganz Tolles. Wir müssen immer darauf achten, dass seine Faszination erhalten bleibt, die Faszination der großen Spiele in der Bundesliga, Champions League und bei den großen Turnieren. Wir müssen aber auch seine Ausstrahlung in der Breite und an der Basis fördern und nutzen.

Frage: Was offenbar kein einfaches Anliegen ist. Wieso fällt es Ihrer Meinung nach dem DFBund der DFL beim Ausgleich ihrer bisweilen unterschiedlichen Interessen nicht immer leicht, den Spagat zwischen den Bedürfnissen des Profi- und des Amateurfußballs zu bewältigen?

Schäuble: Im Fußball steckt so viel positive Kraft, vor allem auch was die Gemeinschaft betrifft, dass er sich nicht auseinanderdividieren lassen wird. Er weiß selbst, wie er diesen Spagat zu bewältigen hat, so dass er von mir keine Empfehlung benötigt. Wenn ich mir dazu eine Meinung bilden will, höre ich lieber auf Theo Zwanziger als auf den für den Sport zuständigen Innenminister, obwohl der einiges vom Fußball versteht. Ich habe in allen Jugendmannschaften von der E-Jugend bis zur A-Jugend beim VfR Hornberg im Schwarzwald gespielt. Und bevor ich Mitglied des Bundeskabinetts wurde, war ich in jeder Sitzungswoche in der Mannschaft des Deutschen Bundestages aktiv am Ball.

Frage: Dennoch gibt es immer wieder mal Diskussionen über die manchmal auseinanderdriftenden Interessen der Profis und Amateure.

Schäuble: Was wichtig ist, und das sage ich nicht als Empfehlung, sondern im Bewusstsein, was der deutsche Fußball leistet, ist der Selbstschutz seiner Organisation als großes Ganzes gegen alle Anfechtungen. Darauf müssen wir auch im europäischen Kontext achten, damit wir wettbewerbsfähig auch auf höchster Ebene bleiben und Schritt halten mit den Topteams in England, Italien und Spanien. Trotzdem sage ich, es ist gut, dass im deutschen Fußball immer die Einsicht vorherrscht: Lasst uns den großen organisatorischen Zusammenhang und Zusammenhalt nicht verlieren, auch wenn sich die Bundesliga rechtlich ein Stück weit verselbstständigen musste. Doch die Brücke zur Kreisklasse. die am Sonntagnachmittag spielt, darf nicht wegbrechen.

Frage: Sehen Sie in diesem Zusammenhang eine Gefahr für den Amateurfußball?

Schäuble: Manchmal habe ich in der Tat die Sorge, dass wir inzwischen im Fernsehen wegen der Attraktivität des Fußballs ein Überangebot übertragen.

Frage: Welche Rolle spielt die Nationalmannschaft im Bewusstsein der Deutschen?

Schäuble: Ihr Stellenwert ist seit der WM ein anderer, ein viel höherer als er noch ein paar Monate vor diesem Sommermärchen gewesen war. Man sieht das ja unter anderem auch daran, welch ungeheuere Resonanz die Tatsache fand, dass Bayern München Jürgen Klinsmann, unseren WM-Trainer, als Klubtrainer für die nächste Saison verpflichtet hat. Das Gefühl, sich mit Deutschland zu identifizieren, ist für viele Deutsche bei der Nationalmannschaft stärker als bei vielen anderen Themen. Das ist positiver Patriotismus, der über den reinen Verfassungspatriotismus weit hinausgeht.

Frage: Wie bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die per Staatsvertrag geregelte Übertragung der A-Länderspiele im Free-TV?

Schäuble: Ich hoffe, dass es so bleibt, und wünsche mir, dass solche Ereignisse, die Millionen von Menschen mehr beschäftigen als vieles andere, im Free-TV weiterhin übertragen werden.

Frage: Mit welchen Erwartungen an das deutsche Team blicken Sie der EM 2008 in der Schweiz und Österreich entgegen?

Schäuble: Ich bin ein unerschütterlicher Fußballfan. Und ein richtiger Fußballfan erwartet, dass seine Mannschaft gewinnt. Dieses mal klingt es ja nicht völlig verrückt, auf den EM-Titel zu hoffen. Es ist möglich, doch es ist keineswegs sicher. Das wird schon in der Vorrunde lausig. Auch gegen Österreich.

Frage: Gleich nach der EM steht für den DFB die nächste große sportliche Herausforderung an. Ist die Frauen-Nationalmannschaft auch in Ihren Augen eine der größten deutschen Medaillenhoffnungen in China?

Schäuble: Ja klar! Ich habe das Finale der Frauen-WM 2007 in Schanghai im Stadion miterlebt und war von dem Niveau sehr beeindruckt. Auch von dem Leistungsvermögen der Brasilianerinnen. Wir wissen, dass es daneben auch das Frauen-Team der USA gibt und auch in Europa eine Reihe von Mannschaften uns Paroli bieten. Eine Olympia-Medaille in Peking ist kein Selbstläufer.

Frage: Können bei Fortsetzung oder gar einer Verschärfung der gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Tibet die Olympischen Spiele in China überhaupt stattfinden oder wäre ein inzwischen von etlichen Seiten geforderter Boykott das falsche Mittel?

Schäuble: Was in Tibet stattfindet, erfüllt uns mit großer Sorge. Und Olympische Spiele wie andere sportliche Großereignisse dürfen nicht dazu missbraucht werden, durch staatliche Propaganda über Probleme hinwegzutäuschen. Das haben die Deutschen ja mal ? im negativen Sinne ? perfekt 1936 gemacht. Olympische Spiele müssen also auch in China einen Beitrag leisten, damit sich das Land öffnet. Die Volksrepublik China muss Friedfertigkeit gewährleisten, Freiheitlichkeit und Pluralismus. Doch dass alles kann nur stattfinden, wenn die Olympischen Spiele stattfinden. Deswegen wäre ein Boykott das völlig Falsche.

Frage: Zurück zum Frauenfußball, Herr Minister. Erwarten Sie bei der Frauen-WM 2011 in Deutschland fünf Jahre nach dem weltweit hoch gelobten Mega-Event der Männer ein zweites Sommermärchen?

Schäuble: Man muss zunächst einmal realistisch feststellen, dass es, was das weltweite Interesse von Millionen und Abermillionen von Fußballfans angeht, nichts Vergleichbares zu einer Männer-WM gibt. Die Frauen-WM wird also substanziell und fundamental anders sein. Mittlerweile aber hatten wir bei der letzten Frauen-Weltmeisterschaften und bei anderen Frauen-Spielen gewaltige Einschaltquoten. Zu Recht! Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Frauenfußball bis 2011 seine beachtliche Entwicklung fortsetzt, dass wir im Nachwuchsbereich noch viel mehr Mädchen bekommen, die Fußball spielen. Wenn diese Annahme richtig ist, und wenn die deutsche Nationalmannschaft weiterhin auf so hohem Niveau in der Weltspitze mitspielt, dann wird diese WM 2011 im ganzen Land eine Anteilnahme finden, wie wir das im Frauenfußball niemals gekannt haben.

Frage: Wie werden Sie sich persönlich in diese WM einbringen ? als stellvertretender Vorsitzender im OK-Kuratorium?

Schäuble: Ich mache das, was der DFB vom Bundesinnenminister erwartet, und werde in vergleichbarer Weise wie vor und bei der WM 2006 im OK mitwirken. Mit großer Freude! Was der Fußball für die Organisation dieser WM an Partnerschaft vom Staat braucht, wird er ganz selbstverständlich bekommen. Das ist besprochen und gilt im übrigen auch für die Bundeskanzlerin, die ja die ursprüngliche Idee hatte, dieses Turnier in Deutschland zu veranstalten.

Frage: Welchen Eindruck haben Sie von Steffi Jones als Präsidentin des WM-Organisationskomitees 2011?

Schäuble: Mit ihr als OK-Präsidentin hatte ich noch nichts zu tun. Doch so, wie ich sie zuvor wahrgenommen habe, und was alle, die sie genau kennen, über sie erzählen, ist das eine tolle Entscheidung. Sie wird mit viel Power und mit ihrer ganz eigenen Art dieses OK führen. Sie ist nicht Franz Beckenbauer, sie ist Steffi Jones.

Frage: Steffi Jones sagt, dass bei Mädchen und Frauen das Wir-Gefühl, der Wunsch nach Gemeinschaft und Miteinander besonders ausgeprägt sei…

Schäuble: …dazu lassen Sie mich bitte gleich als Mann etwas sagen. Ich neide den Frauen dieses Wir-Gefühl keineswegs. Doch sie haben diesen Sinn für Gemeinschaft nicht für sich alleine gepachtet. Ich jedenfalls habe Fußball schon so erlebt, dass wir auch in unseren Männer-Teams ein ausgeprägtes Miteinander hatten.

Frage: DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger sieht in der WM 2011 die große Chance, den Frauen-, Mädchen- und Schulfußballs voranzubringen und andere wichtige Punkte in seinem Regierungsprogramm wie Integration, Gewaltprävention oder den Kampf gegen Rechtsextremismus voranzutreiben. Wie bewerten Sie diese Aktivitäten und damit auch die Veränderungen innerhalb des DFB?

Schäuble: Ich schätze Theo Zwanziger sehr. Wie übrigens auch seine Vorgänger Gerhard Mayer-Vorfelder, Egidius Braun und Hermann Neuberger, die ich ja alle erlebt habe. Bei Theo Zwanziger kommt aber hinzu, dass er diese gesellschaftspolitische Verantwortung des Fußballs in einer Weise betont und in die Tat umsetzt, die ich als Innenminister als beispielhaft empfinde. Der Fußball ist nun mal bedeutender als viele andere gesellschaftliche Bereiche. Und wenn der organisierte Fußball über die Person seines Präsidenten diese Verantwortung mit Klugheit, mit Erfahrung und Führungskraft in einem so starken Maße wahrnimmt, dann kann das Land, vertreten durch seine Regierung, dafür nur dankbar sein. Der Einsatz für Integration und der Kampf gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit ist ein weites Feld. Ich will es an dieser Stelle mal ganz einfach sagen: Kinder und Jugendliche, Buben wie Mädchen, die Fußball spielen oder einen anderen Sport treiben, machen mir weniger Sorgen als solche, die nicht Fußball spielen.

Frage: Wird vor dem Hintergrund der gesteigerten Aufmerksamkeit und Popularität der Fußball und speziell der DFB seiner Verantwortung im Kampf gegen Doping gerecht?

Schäuble: Auf jeden Fall. Man muss dabei zwei Dinge bedenken. Doping ist geeignet, alles Positive einer Sportart zu zerstören. Deshalb muss man kompromisslos dagegen vorgehen. Andererseits muss man aufpassen, den Fußball, wenn es keinen Grund dafür gibt, nicht unter Generalverdacht zu stellen. Der DFB hat in Vereinbarungen mit der NADA die Anzahl der Kontrollen deutlich erhöht. Er weiß, dass es den Anfängen zu wehren gilt. Der DFB tut das Notwendige und ist hierfür auch finanziell eher als andere in der Lage. Man kann ihn nur ermutigen, weiterhin Solidarbeiträge für den ganzen deutschen Sport zu leisten. So wie es nach der WM 2006 mit einem Teil des finanziellen Gewinns geschehen ist, als der Deutsche Olympische Sportbund, die Sporthilfe und der Behindertensportverband davon profitierten.

Frage: DOSB-Präsident Dr. Thomas Bach drängt, unterstützt von Dr. Zwanziger, darauf, den Sport als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Warum sind Sie anderer Meinung?

Schäuble: Weil ich generell Zweifel daran habe, dass weitere Staatsziele im Grundgesetz die richtige Lösung sind. Damit wird im Grunde suggeriert, dass damit Probleme gelöst würden, was gar nicht der Fall ist. Ich war schon nicht dafür, den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Wir haben jetzt in unserer Fraktion vereinbart, sollten weitere Staatsziele im Grundgesetz festgeschrieben werden, dann gehört auch der Sport dazu. Doch es wäre nicht richtig, wenn alles, was wichtig ist in unserer Gesellschaft, als Staatsziel im Grundgesetz stehen würde. Worauf es ankommt, ist die Lösung konkreter Probleme.

Frage: Zum Beispiel?

Schäuble: Ich stimme 100-prozentig mit den Verantwortlichen im Sport überein, dass wir auch unter den Bedingungen des europäischen Binnenmarktes nicht alle Lebensbereiche, speziell den Sport und den Fußball, nur nach den Gesetzen von Markt und Wettbewerb regulieren sollten. Ich muss ehrenamtlichen Organisationen, um ehrenamtliches Engagement zu fördern, einen größeren Freiraum zur Selbstregulierung ermöglichen. Deswegen habe ich auch viel Verständnis, dass DFB und DFL bestreiten, ihre Absprachen, die ja auch den Amateurbetrieb betreffen und schützen, seien ein Kartell-Tatbestand. Da muss man Wege finden, die ja mittlerweile auch eröffnet sind, um zu vernünftigen Gesprächen zu kommen. Im übrigen bin ich ohnehin der Überzeugung, unsere Gesellschaft und freiheitliche Ordnung bleiben stabiler, wenn nicht alles über den gleichen Leisten geschlagen wird. Vielfalt ist eine bessere Voraussetzung für Nachhaltigkeit.

Frage: Glauben Sie, dass Dr. Bach und Dr. Zwanziger dieser Argumentationskette folgen werden?

Schäuble: Ich weiß es nicht. Doch ich möchte möglichst viel Autonomie für einen freien Sport. Und da ich in diesem Punkt mindestens so überzeugt bin wie Thomas Bach und Theo Zwanziger, müssen die beiden halt damit leben, dass ich in der Frage des Staatsziels eine andere Meinung habe. Das gehört auch zur Freiheit in unserer Gesellschaft.

Das Gespräch führten die DFB-Redakteure Harald Stenger und Wolfgang Tobien.