„Grö­ße­res in­ter­na­tio­na­les En­gan­ge­ment“



„Es wird höchste Zeit, dass wir uns – neben den vielen Hausaufgaben, die wir innereuropäisch zu erledigen haben – stärker auf die internationale Rolle Europas besinnen“, schrieb der Bundesfinanzminister in einem Gastbeitrag für die Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Die Frage nach „Deutschlands neuer Verantwortung“ beschäftigt uns zwar schon länger. Aber als die Diskussion in den 90er-Jahren begann, geschah dies unter anderen Vorzeichen: In der Europäischen Union herrschte Aufbruchsstimmung, und man fühlte sich geborgen in einer stabilen transatlantischen Partnerschaft. Inzwischen hat sich mit Großbritannien ein EU-Mitgliedsland, das in vieler Hinsicht eine Führungsrolle in Europa hatte, entschlossen, die Europäische Union künftig nicht mehr mitzugestalten.

Auch der Zusammenhalt zwischen den übrigen Mitgliedsländern hat gelitten. Der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Handlungsfähigkeit der Union ist dies nicht gut bekommen. In dieser Phase europäischer Selbstfindung gibt es zudem dringende Fragen an die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft und die künftige internationale Rolle der Vereinigten Staaten. Die gegenwärtige Lage ist insgesamt durch multiple Ungewissheiten in einer heterogenen Bedrohungslage charakterisiert.

Die großen Flüchtlingsbewegungen, zahlreiche Kriege, Krisen und Konflikte, Terroranschläge auch im Herzen Europas, wachsender Populismus, Nationalismus und Europa-Skeptizismus – all dies macht es nicht leichter, international Verantwortung zu schultern. Die alte Weltordnung ist vor 25 Jahren mit dem Mauerfall, dem Zerfall des Sowjetreichs und der Demokratisierung Osteuropas verschwunden. Doch ist bislang nicht erkennbar, welches internationale Koordinatensystem sich für eine längere Dauer etablieren wird.

Durch die Kombination dieser Umbrüche und Unwägbarkeiten tritt das Kernanliegen Deutschlands noch deutlicher hervor: Unser vitales Interesse ist eine stabile Ordnung in einer offenen Welt mit fairen und verlässlichen Regeln für das 21. Jahrhundert. Dafür setzen wir uns ein. Deutschland engagiert sich auf vielfältige Weise für ein friedliches Miteinander der Staaten, für Demokratie und den Schutz der Menschenrechte, für die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen sowie wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt.

Aber dafür braucht es starke Partner. Deutsche Verantwortung bedeutet für uns, gemeinschaftlich zu handeln. Unverzichtbar dafür ist die Europäische Union. Die notwendige Unterstützung der Menschen in Europa für unseren gemeinsamen europäischen Weg werden wir weiterhin aber nur dann bekommen, wenn es uns besser gelingt, zu vermitteln, warum es in unserem ureigenen Interesse liegt, die Aufgaben des 21. Jahrhunderts in einem vereinten Europa anzupacken.

Ob Sicherheit, Klimaschutz, Migration oder Wettbewerbsfähigkeit – die großen Fragen unserer Zeit lassen sich nicht durch nationale Alleingänge lösen. Die Umbrüche, die mit der Globalisierung und Digitalisierung einhergehen, sind unvermeidlich, sie lassen sich nicht einfach wegsperren oder verdrängen, erst recht nicht von einer global verflochtenen Exportnation wie Deutschland. Ohne die Europäische Union wird kein einziger Mitgliedstaat auf Dauer in der Lage sein, seine Interessen und Werte wirksam zur Geltung zu bringen.
Lange, viel zu lange schon hat man sich in Europa darauf verlassen, dass im Fall von Krisen und Konflikten die Vereinigten Staaten einspringen und Defizite europäischen Handlungswillens und europäischer Handlungsfähigkeit ausgleichen. Aber immer mehr Amerikaner fragen, nicht zu Unrecht und nicht erst seit den jüngsten Präsidentschaftswahlen, ob Verpflichtungen und Verantwortung im transatlantischen Bündnis angemessen verteilt sind.

Es wird höchste Zeit, dass wir uns – 2013 neben den vielen Hausaufgaben, die wir innereuropäisch zu erledigen haben – stärker auf die internationale Rolle Europas besinnen. Dies mag auf den ersten Blick wie eine gewaltige Last, für manche auch nach Überforderung klingen. Aber wir sollten auch die Chancen größerer europäischer Verantwortung nicht übersehen. Wenn wir Europäer zeigen, dass wir in Kernbereichen wie der Flüchtlingspolitik, der Sicherheitspolitik, dem Kampf gegen den Terrorismus und der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu Lösungen fähig sind, dann hilft uns dies nicht nur international.

Europäische Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit nehmen zugleich jenen den Wind aus den Segeln, die den Bürgerinnen und Bürgern einreden wollen, dass Europa das Problem und nicht die Lösung sei. Dass Forderungen nach Abschottung, Abgrenzung und nationalem Rückzug bei einer wachsenden Zahl von Europäern Gehör und auch Zustimmung finden, hat gewiss unterschiedliche Ursachen.

Aber die Skeptiker werden wir am ehesten durch eine erfolgreiche europäische Politik überzeugen: durch die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und die Sicherung von Wachstum, durch die Stabilisierung der Währungsunion, durch einen besseren Schutz der europäischen Grenzen sowie durch erfolgreiche Beiträge zur Befriedung und Stabilisierung unserer Nachbarschaft. Dies sind große Ziele, die eigentlich Veränderungen des europäischen Vertragswerks erforderten. Aber weil es dafür sowohl an Zeit als auch an Zustimmung mangelt, müssen wir pragmatisch sein und durch wechselnde Koalitionen der Willigen auf zwischenstaatlichen Wegen vorangehen.