„Für mich war klar, Berlin muss Hauptstadt sein“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Welt am Sonntag

Welt am Sonntag: Herr Minister, Sie sind gerade aus dem Reichstagsgebäude hier in das Finanzministerium in der Wilhelmstraße geeilt. Wie fühlt sich der Regierungssitz Berlin an, zwei Jahrzehnte nach der Bundestagsentscheidung?

Wolfgang Schäuble: Intensiv. Groß- und gleichzeitig kleinstädtisch. Vielfältig. Manchmal stressig.

Welt am Sonntag: Ist das der große Unterschied: In Berlin läuft der Politikbetrieb schneller heiß als noch in Bonn?

Schäuble: Heute ist vieles anders als vor 20 Jahren, aber das hat mit dem Hauptstadtbeschluss nicht viel zu tun. Die Medienwelt hat sich zum Beispiel gewandelt, Nachrichten werden viel schneller verbreitet. Aber würden Sie und Ihre Kollegen langsamer arbeiten oder weniger nach der neuesten Nachricht suchen, wenn Bonn noch Regierungssitz wäre? Wohl kaum.

Was wirklich anders ist: In Berlin sind Regierung und Parlament nur ein Teil der Stadt, während Bonn über 40 Jahre sehr stark von der Politik geprägt wurde. Berlin ist eine moderne Metropole, in der sich die Vielfalt der heutigen Welt viel stärker spiegelt als irgendwo sonst in Deutschland.

Welt am Sonntag: Kritiker sagen, das politische Berlin sei mindestens so sehr Raumschiff, wie es Bonn war.

Schäuble: Das Gegenteil ist richtig. In Bonn saßen alle auf wenigen Quadratmetern zusammen, man traf fast immer dieselben Leute. Es gab neben der Parlamentarischen Gesellschaft im Wesentlichen nur noch ein oder zwei Lokale, wo alle hingingen.

Welt am Sonntag: Das ist doch in Berlin nicht anders. Schauen Sie sich im „Café Einstein“ oder im Restaurant „Borchardt“ um.

Schäuble: Einzelne machen das auch in Berlin so, aber die meisten leben hier sehr viel intensiver mit und in der Stadt, sie bleiben auch mal übers Wochenende und nehmen am äußerst vielfältigen kulturellen Leben der Stadt teil. Anders in Bonn: Suchte man Abgeordnete, musste man nur in die Parlamentarische Gesellschaft gehen. Das klappt hier nicht. Berlin ist meilenweit entfernt von Raumschiff oder Käseglocke.

Das Reichstagsgebäude ist das meistbesuchte Parlament der Welt. In Israel wurde Berlin zur sympathischsten aller Hauptstädte gewählt. Das hat mich schon gerührt. Die Stadt ist laufend im Wandel, und die Welt kommt gerne zu uns zu Besuch. Berlin ist ein großartiges Aushängeschild und Werbeträger für das vereinte Deutschland. Also im Großen und Ganzen sind das doch viele Gründe, um auch im Nachhinein zu sagen, dass die Entscheidung für Berlin die richtige war.

Welt am Sonntag: Treffen Sie noch Leute, die sich nach Bonn zurücksehnen?

Schäuble: Nein. Und ich bin mir sicher: Wenn man heute eine Umfrage unter den damaligen Abgeordneten machen würde, wären sie wahrscheinlich zu 90 Prozent für Berlin. Wir haben es hier mit einem sehr seltenen Fall zu tun: Eine knappe, hochumstrittene Entscheidung erweist sich hinterher als absolut richtig. Sie hatte eine befriedende Wirkung. Ein Votum für Bonn wäre höchstwahrscheinlich immer wieder infrage gestellt worden.

Welt am Sonntag: Noch am Morgen vor der historischen Abstimmung im Bundestag waren sich die Bonn-Befürworter ihrer Mehrheit ganz sicher.

Schäuble: Man hatte in den Fraktionen durchgezählt. Die Entscheidung schien gefallen.

Welt am Sonntag: Sie sprachen als siebter Redner der Debatte. Hat Ihr Appell den Umschwung gebracht?

Schäuble: Tja, wir werden es wohl nie mit letzter Sicherheit wissen, aber so sehen es viele. Man muss dazu sagen: Ich habe am späten Vormittag geredet, und die Abstimmung war spätabends. Das war ein langer Zeitraum. Als ich vom Rednerpult zurück auf die Regierungsbank fuhr, spürte ich die positive Reaktion im Saal, und ich sagte zum damaligen Justizminister Klaus Kinkel, der neben mir auf der Regierungsbank saß und auch ein Berlin-Befürworter war: „Jetzt müssten wir abstimmen, dann würden wir gewinnen.“ Aber es war ja noch lange hin, und wir konnten überhaupt nicht sicher sein, ob es halten würde.

Welt am Sonntag: Wie lange hatten Sie an Ihrer Rede gefeilt?

Schäuble: Ganz kurz. Am Morgen der Abstimmung hatte ich spontan angeboten, der Hauptsprecher der Union für Berlin zu sein.

Welt am Sonntag: Ihre Rede war nicht geplant?

Schäuble: Ich war zwar in der fraktionsinternen Debatte der Hauptbefürworter für Berlin gewesen. Aber ich dachte, im Plenum könne ruhig mal ein anderer ran. Morgens in der Fraktionssitzung habe ich mich dann aber so über die Bonn-Befürworter geärgert, dass ich mit Peter Kittelmann sprach, dem damaligen Chef der Berliner CDU-Abgeordneten. Ich sagte: „Wenn du willst, halte ich die Rede.“ Dann habe ich mich in eine Ecke gesetzt mit einem Kaffee, habe eine Pfeife geraucht und Stichworte aufgeschrieben.

Welt am Sonntag: Sie hatten morgens keine Rede parat?

Schäuble: Morgens hatte ich noch gar nicht die Absicht zu reden.

Welt am Sonntag: Wie gefällt Ihnen Ihr Auftritt im Rückblick?

Schäuble: Ehrlich gesagt: Ich habe die Rede gar nicht mehr so genau im Kopf, aber offenbar war sie gut genug. Vielleicht sollte ich sie zum Jahrestag noch mal lesen.

Welt am Sonntag: Aus heutiger Sicht ist schwer nachzuvollziehen, warum Berlin nach der Wiedervereinigung nicht ganz selbstverständlich wieder Regierungssitz wurde.

Schäuble: Für mich war immer klar, dass Berlin die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands sein musste. Deshalb fiel ich auch aus allen Wolken, als das infrage gestellt wurde. Ich war Innenminister, als im Februar 1990, noch vor den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR, Hans Daniels zu mir kam, der damalige Oberbürgermeister von Bonn und Mitglied der Unionsfraktion im Bundestag. Er wollte eine Lanze für Bonn als Regierungssitz brechen. Ich konnte es kaum glauben, wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte, aber ich sah, es war ihm Ernst damit – vielleicht verständlich aus seiner Perspektive.

Welt am Sonntag: Daniels war wahrscheinlich weniger zum Lachen zumute. Er meinte seinen Einsatz für Bonn ernst – wie viele andere auch.

Schäuble: Selbst in der Unionsfraktion hieß es: Wenn Berlin als Regierungssitz im Einigungsvertrag festgeschrieben wird, werden wir nicht zustimmen. Alle elf Ministerpräsidenten der alten Bundesländer waren gegen Berlin – außer dem Regierenden Bürgermeister natürlich. Erst nach langen Diskussionen, die fast in Streit mündeten, haben wir uns unter vielen Mühen darauf geeinigt, dass im Einigungsvertrag eine Hauptstadtentscheidung binnen eines Jahres festgeschrieben wird.

Welt am Sonntag: Auch in Ihrer Heimat im Südwesten war der Widerstand groß.

Schäuble: Selbst der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel war eigentlich für Bonn. Ich habe ihn daran erinnert, dass wir uns immer dafür ausgesprochen hatten, Berlin nach einer Wiedervereinigung zur Hauptstadt zu machen. Aber er blieb skeptisch. Und er war nicht der Einzige. Selbst einzelne gradlinige Preußen hatten sich auf Bonn eingeschworen. Immerhin: Bei den Ministern im Kabinett Kohl gab es eine Mehrheit für Berlin.

Welt am Sonntag: Wie kam schließlich der Stimmungsumschwung zustande?

Schäuble: Ein wichtiges Signal war der Landesparteitag der CDU Baden-Württemberg in Rottweil im April 1991, zwei Monate vor der Bundestagsentscheidung. Gefühlte zwei Drittel der Delegierten waren für Bonn. Ich trat damals nach dem Attentat erstmals wieder auf einer Parteiveranstaltung auf. Ich bat mit Absicht darum, als Letzter vor der Abstimmung zu sprechen. Ich habe intensiv für Berlin geworben. Zur Überraschung aller stimmte die CDU im Südwesten mit Zweidrittelmehrheit für Berlin. Das war der erste westdeutsche Parteiverband, der sich für Berlin entschied.

Welt am Sonntag: Ein Probelauf für den Bundestag.

Schäuble: Es war geradezu ein Durchbruch. Erstmals konnte der Trend gegen Berlin umgekehrt werden – in einem wichtigen Bundesland tief im Westen. Ich denke, dass das damals nicht nur an meinen Argumenten lag. Es ging wahrscheinlich auch um den Menschen Schäuble, der knapp überlebt hatte und zum ersten Mal im Rollstuhl auftrat. Das hat vermutlich die Menschen berührt. Ich gehe mal davon aus, dass das Einzelne zusätzlich motiviert hat, mit mir zu stimmen.

Welt am Sonntag: Nach der Bundestagsentscheidung soll der Bonn-Befürworter Friedbert Pflüger – interessanterweise später selbst Bewerber um das Berliner Bürgermeisteramt – Sie in seiner Enttäuschung als „Goebbels im Rollstuhl“ bezeichnet haben. Haben Sie das mitbekommen?

Schäuble: Ich habe das mal gelesen. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich so war. Sicher ist aber, dass er mir viel später einmal gesagt hat, dass die Entscheidung für Berlin richtig war.

Welt am Sonntag: An welche Reaktionen erinnern Sie sich noch?

Schäuble: Bundeskanzler Helmut Kohl hat nach mir auch das Wort ergriffen. Vielleicht fühlte er sich zusätzlich motiviert, sein Gewicht ebenfalls für Berlin nachdrücklich in die Waagschale zu werfen.

Welt am Sonntag: Wie fanden Sie seine Rede?

Schäuble: Die Debatte zum Hauptstadtbeschluss ist bei allen, die ihr beigewohnt oder an ihr teilgenommen haben, als einer der großen Momente der lebendigen Debattenkultur im Bundestag in Erinnerung geblieben. Alle Redner haben sich zum Teil sehr persönlich eingelassen und das Für und Wider von Bonn und Berlin umfassend beleuchtet.

Welt am Sonntag: Kohl leitete sein Votum für Berlin aus zentralen Erlebnissen seiner Politikerlaufbahn ab.

Schäuble: Ich glaube, dass die Befürworter von Berlin es bei der Debatte einfacher hatten zu argumentieren. Die richtige Lösung – also Berlin – lag eigentlich auf der Hand. Dennoch musste Überzeugungsarbeit geleistet werden. Und so hat im Endeffekt ein jeder, der für Berlin sprach, sein Scherflein dazu beigetragen, dass der Beschluss – wenn auch knapp – für Berlin fiel. Alle haben geholfen, dass die richtige Wahl getroffen wurde.

Welt am Sonntag: Manche Ministerien haben immer noch viele Abteilungen in Bonn. Wäre es nicht an der Zeit, dass diese auch nach Berlin ziehen?

Schäuble: Ich habe mich so sehr für Berlin als Hauptstadt des vereinigten Deutschlands engagiert, dass ich mich davor hüten werde, an dem damals gefundenen Kompromiss zu drehen. Die Entscheidung für Berlin war für Bonn nicht einfach, und wir alle verdanken der früheren Bundeshauptstadt Bonn viel. Die Regelung des Bonn-Berlin-Beschlusses wurde auch getroffen, um soziale Härten zu vermeiden. Vielleicht ist dies insgesamt eine Frage, die sich einfach irgendwann einmal von selbst erledigen wird.

Welt am Sonntag: Wenn Ihnen das Ministeramt Zeit lässt: Wo gehen Sie in Berlin hin?

Schäuble: Wir haben eine Wohnung am Grunewald. Dort fahre ich gerne mit meinem Hand-Bike die Havelchaussee lang. Auch das Angebot der Theater und Opern ist in Berlin wirklich phänomenal. Zudem gehe ich gerne in die Philharmonie. Ich war gerade erst wieder mit meiner Frau dort, Mahlers 6. Sinfonie mit Sir Simon Rattle. Da habe ich auch Professor Sauer gesehen …

Welt am Sonntag: … den Ehemann von Angela Merkel.

Schäuble: Der Platz neben ihm war frei. Die Kanzlerin hatte es wohl nach ihrer Asien-Reise nicht mehr rechtzeitig ins Konzert geschafft. Das passiert mir leider auch zu oft. Ich musste ihr aber später sagen, dass sie wirklich etwas verpasst hat. Sir Simon Rattle, die Philharmoniker und Mahler – ein Hochgenuss!

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