Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Welt am Sonntag



Welt am Sonntag: Herr Schäuble, die EU hatte mehrere direkte und mehrere indirekte Gründungsväter: Neben Adenauer, Schuman und de Gasperi eben auch Hitler und Stalin. Das heißt, es brauchte in Europa auch die Bedrohung von außen, um im Inneren voranzukommen. Wenn die These stimmt, dann müsste Wladimir Putin einen großen Bewegungsschub innerhalb Europas freisetzen. Haben Sie den Eindruck, dass Paris und Berlin den Mantel der Geschichte, um mit Bismarck zu sprechen, ergreifen oder ungenutzt an sich vorbeiziehen lassen?

Wolfgang Schäuble: Ich glaube tatsächlich, dass beide Staaten den Mantel der Geschichte ergriffen haben und die Herausforderung annehmen, die sich aus Putins Angriffskrieg auf die Ukraine ergeben. Es ist schon wahr: Gerade die Deutschen sind häufig ein wenig schwerfällig, ein bisschen perfektionistisch und zuweilen umständlich. Und nach den Parlamentswahlen hat es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch nicht gerade leicht. Unter dem außenpolitischen Druck aber bewegen sich die Dinge schneller. Von daher halte ich es mit Winston Churchill: „Never let a good crisis go to waste”.

Weder die Merkel- noch die Scholz-Regierung hat auf Emmanuel Macrons Sorbonner Rede vom September 2017 geantwortet, obwohl er bedeutende Aspekte einer engeren europäischen Zusammenarbeit ansprach, die seit dem Ausbruch des Krieges eine neue Relevanz erhalten haben. Warum fehlt der heutigen deutschen Politikergeneration das Visionäre?

Schäuble: Vielleicht ist unser Politik-Stil in den letzten Jahren mehr auf Pragmatismus und weniger auf Visionen gestellt worden – auch weil es mit Visionen nicht immer einfach ist. Jedenfalls muss ich mit Bedauern sagen: Es ist eine vertane Chance, dass wir Deutschen nicht auf Macrons Sorbonne-Rede geantwortet haben. Dass wir diese Chance verpasst haben, lässt sich erklären: Damals standen wir in komplizierten Koalitionsgesprächen, trotzdem bleibt ein Bedauern, dass wir diese Möglichkeit verstreichen ließen.

Seit Russlands Ukraine-Krieg sehen wir in Mittelosteuropa eine interessante Achsenverschiebung weg von der Achse Warschau-Budapest hin zu der Achse Prag-Warschau–Baltikum. Was bedeutet dies für das innere Gefüge der Europäischen Union?

Schäuble: Das stimmt, aber ganz unabhängig davon bin ich schon sehr lange der Meinung: Neben Franzosen und Deutschen muss Polen endlich als gleichwertiges, gleichwichtiges Mitglied in die Führung der europäischen Einigung aufgenommen werden. Polen muss schleunigst so behandelt werden, wie es Polen eigentlich schon immer verdient hat. Diese Chance dürfen wir nicht verstreichen lassen. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich bedauert, dass Macron und Scholz ohne ihren polnischen Kollegen Morawiecki nach Kiew gefahren sind. Es wäre ein ganz anderes Signal gewesen, wenn Polen, Deutschland, und Frankreich gemeinsam in Kiew aufgetreten wären. Überdies spielt Polen auch in der Verteidigungspolitik eine zentrale Rolle, wie wir spätestens seit Russlands Überfall auf die Ukraine merken. Zusammen mit Warschau und Paris könnte Berlin daran arbeiten, dass die europäische Verteidigung nicht alternativ, sondern komplementär zur Nato gestaltet wird.

Welche Bedeutung soll die europäische Verteidigung nach dem 24. Februar, dem Kriegsbeginn, haben?

Schäuble: Wir müssen in Europa jetzt einige Dinge unabhängig von dem europäischen Regelwerk tun. Verteidigung nach den Regeln des Lissabonner Vertrages wird nicht der gegenwärtigen Herausforderung gerecht werden. Diejenigen, die mehr für die europäische Verteidigung tun wollen, müssen jetzt vorangehen – und zwar mit denjenigen, die es auch wollen. Leider ist der Begriff „Koalition der Willigen“ belastet. Aber genau darum geht es: Frankreich, Deutschland und Polen sollten nun die Initiative für eine engere europäische Verteidigungspolitik ergreifen. Sie sollten vorangehen und gleichzeitig alle Europäer einladen mitzumachen, sich aber nicht von anderen daran hindern lassen. Das gleiche gilt übrigens auch für die Flüchtlingspolitik.

Was meinen Sie?

Schäuble: Es kann nicht sein, dass wir Europäer permanent von unserer Werteordnung reden und gleichzeitig die Menschen im Mittelmeer ihrem Schicksal überlassen. Wir müssen uns schämen, was da mitunter zu beobachten ist. Wir dürfen nicht mehr warten, bis sich alle EU-Mitglieder auf die Verteilung der Flüchtlinge geeinigt haben. Also gilt auch hier: Wer mitmacht, macht mit. Wer nicht mitmacht, kann sich überlegen, ob er auf andere Weise einen Beitrag leistet – dafür wären viele zu gewinnen. Auch hier möchte ich Polen loben. Die Hilfsbereitschaft, die Polen bei der Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge an den Tag legt, ist großartig.

Das gilt auch für Tschechen und Slowaken.

Schäuble: Sehr richtig. Wir müssen endlich damit ernst machen, dass Europa mehr ist als das alte Westeuropa. Wenn wir in der Bundesrepublik ein Problem bei dem Prozess der Wiedervereinigung hatten, dann war es der Umstand, dass wir den Menschen der neuen Bundesländer zu lange erlaubt haben, zu glauben, wir würden sie nicht als gleichberechtigt ansehen. Auf der europäischen Ebene haben wir dasselbe Problem. Das muss sich dringend ändern.

Sie betonen die Notwendigkeit einer vertieften europäischen Zusammenarbeit. Lassen Sie uns trotzdem einen Schritt zurück tun und noch einmal auf das deutsch-französische Verhältnis schauen: Was kann oder sollte Berlin als Lehre aus dem Ukraine-Krieg Paris anbieten, um die Partnerschaft enger zu gestalten?

Schäuble: Tatsächlich müssen wir einen Schwerpunkt auf die Verteidigung legen. Klar ist: Wir müssen sehr viel mehr auf diesem Gebiet tun. Nachdem Putins Helfershelfer jeden Tag mit einem Atomschlag drohen, steht für mich unverrückbar fest: Wir brauchen auch auf europäischer Ebene die nukleare Abschreckung. Über diese verfügt Frankreich. Aus ureigenem Interesse müssen wir Deutsche im Gegenzug für eine gemeinsame Nuklearabschreckung einen finanziellen Beitrag für die französische Nuklearmacht leisten. Das heißt: Frankreich hat einen vernünftigen Anspruch darauf, dass wir für diese Abschreckung einen größeren Teil bezahlen. Gleichzeitig müssen wir mit Paris in eine verstärkte strategische Planung eintreten. Ich weiß, dass das in Deutschland keine einfache Debatte wird. Jedenfalls ist die europäische Verteidigungskapazität ohne die nukleare Dimension nicht denkbar. Was Frankreich dabei leisten muss ist, dass sich das alles in die NATO einfügen muss.

Bräuchten wir dann nicht auch ein nukleares Mitspracherecht?

Schäuble: Darüber kann man sich verständigen, denn: Frankreich und Deutschland liegen als Nachbarn so eng nebeneinander, dass es keinen Unterschied zwischen dem deutschen und französischen Verständnis von gemeinsamen Gefahren gibt. Auch ist das, was ich über eine deutsch-französische Abschreckungspolitik gesagt habe, nicht wirklich neu. Schon früheren Regierungen soll die französische Seite gelegentlich Gespräche über eine gemeinsame Nuklearabschreckung unter entsprechender Beteiligung an den finanziellen Lasten angeboten haben – man wollte darauf nicht unbedingt angesprochen werden, es war aber eine andere Zeit.

Welche Rolle sollte diese europäische Nuklearabschreckung im Verhältnis zur Nato und der amerikanischen Abschreckung spielen?

Schäuble: Ich würde versuchen, auch die Briten als zweite europäische Atommacht mit ins Boot zu holen. Immer muss gelten: Alles mit der NATO, niemals gegen sie.

In einem Gastkommentar hat Bundeskanzler Scholz kürzlich erklärt, er wolle im Herbst eine Initiative starten, um in der EU vom Prinzip der Einstimmigkeit wegzukommen. Was halten Sie davon?

Schäuble: Ich bin seit eh und je für die Einführung von Mehrheitsentscheidungen gewesen. Sogar als Finanzminister habe ich selbst in Steuerfragen gegen die Einstimmigkeit auf europäischer Ebene plädiert. Das hat mich in meiner Partei einige Sympathien gekostet. Einstimmigkeit auf europäischer Ebene ist ein Übel. Wer die Möglichkeit hat, mit seinem Veto bestimmte nationale Anliegen durchzuboxen, ist in einer großen Versuchung.

Mehrheitsbeschlüsse gelten auch für die Vergemeinschaftung von Schulden.

Schäuble: Der Punkt ist doch ein anderer: In einer Währungsunion brauchen wir eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, sonst funktioniert sie nicht. Dieser Mangel hat ja zu einem erheblichen Maß zur Eurokrise geführt. Deswegen hatte ich schon zu Beginn dieser Krise den Vorschlag gemacht, die Wirtschaftsunion zu vollenden. Allerdings gibt es einfache Wahrheiten, die auch in Europa gelten: Man kann auf die Dauer nicht mehr ausgeben, als man einnimmt. Man kann nicht mehr verbrauchen, als man erarbeitet. Man sollte auch nicht mehr verbrauchen, als mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit für die Erhaltung der Natur möglich ist. Und man darf in der EU in allen wirtschaftlich-finanziellen Dingen die Entscheidungszuständigkeit nicht von der Haftung trennen. Ich bin überzeugt, dass wir in Europa über kurz oder lang zu diesen Erkenntnissen gelangen und gleichzeitig von dem Gedanken getragen werden, dass es in einer Gemeinschaft wie der EU einen Ausgleich zwischen den Stärkeren und Schwächeren geben muss. Das kann dann Grundlage sein, gemeinsam Anleihen herauszugeben.

Seit Ende Februar vernimmt man immer wieder die Klage, die Deutschen hätten auf die Osteuropäer zu wenig gehört. Sie wüssten besser als die Deutschen, wie die Russen sind. Ist das ein gerechtfertigter Befund?

Schäuble: Es gehört zu den Dingen, die die deutsche Politik sich wirklich sagen lassen muss: Unser Ansehen ist gerade in diesen Fragen miserabel. Wir gelten als die Bremser, auch was die Solidarität mit der Ukraine angeht. Das stimmt zwar nur teilweise, aber selbst wenn der Bundeskanzler mit Argumenten darlegt, dass es nicht so sei, ist die Tatsache, dass es andere so sehen, für die deutsche Politik ein Faktum. Die bisherige deutsche Russlandpolitik ist kein Ruhmesblatt.

Was heißt das auf lange Sicht für den Umgang mit Russland?

Schäuble: Ich glaube an einen partnerschaftlichen Umgang mit einem Russland, das die Grundregeln partnerschaftlicher Zusammenarbeit respektiert – also die Unveränderbarkeit von Grenzen, den Verzicht auf Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Interessen und den Respekt für die Menschenrechte. Ich glaube auch, dass die Interessen Russlands auf lange Sicht eher für eine engere Zugehörigkeit zu Europa als zu China sprechen. Manfred Wörner – der bisher erste und einzige deutsche Nato-Generalsekretär – hat schon Anfang der 90er Jahre für eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland geworben. Hätte ihn seine tückische Erkrankung nicht zu früh versterben lassen, wäre aus diesem Gedanken vielleicht mehr geworden, denn die Idee ist richtig. Sicher auch die Polen werden zustimmen, wenn wir sagen, dass eine Partnerschaft mit einem Russland, das dem Gewaltverzicht, der Unverletzlichkeit der Grenzen und den grundlegenden Regeln des Völkerrechts verpflichtet ist, politisch richtig ist. Mit einem solchen Russland können und wollen wir gut zusammenarbeiten. Aber: Mit Putin wird das schwierig werden.