„Die ersten Irak-Flüchtlinge kommen im Herbst“



Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über behutsame Einwanderung,  Krankenschwestern aus Ghana, Barmherzigkeit und energiepolitische Geisterfahrer

Herr Schäuble, braucht Deutschland Einwanderung?

Wir haben sie schon! Etwa 15 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Die Bundesagentur für Arbeit meldet, wir hätten einen wachsenden Bedarf an Fachkräften den wir nicht allein mit Einheimischen decken könnten. Beim Thema Migration müssen wir flexibler sein als bisher. Zusammen mit Arbeitsminister Scholz arbeite ich an einer Kabinettsvorlage, die den Zuzug von Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland erleichtern soll.

Viele Bürger meinen, die Einwanderer nähmen uns die Arbeitsplätze weg.

Sicher dürfen wir die drei Millionen Arbeitslosen nicht aus dem Blick verlieren, die es trotz unserer Erfolge am Arbeitsmarkt noch immer gibt. Wir wollen Deutschland ja auch nur behutsam für Einwanderer öffnen. Im Übrigen reden wir hier von einem Austausch auf Zeit: Auch die Deutschen, die nach China oder Amerika gehen, um dort zu arbeiten, kommen nach einigen Jahren wieder zurück.

Der Handwerkspräsident Otto Kentzler hat vorgeschlagen, junge Polen und Ungarn zur Ausbildung nach Deutschland zu holen, weil es zu wenig geeignete deutsche Lehrlinge gebe. Eine gute Idee?

Ich kann ihn verstehen. Zunächst muss aber alles getan werden, damit diejenigen eine Ausbildung bekommen, die schon hier sind. Wir können es uns nicht leisten, junge Leute links liegenzulassen, nur weil sie schlecht qualifiziert sind. Auch die Wirtschaft steht in der Verantwortung. Bei manchen Forderungen habe ich das Gefühl, es geht gar nicht so sehr um qualifizierte, sondern eher um billige Arbeitskräfte. Das gilt auch für die Saisonarbeitskräfte: Auf Dauer ist es nicht gut, dass wir auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind, die unseren Spargel stechen oder den Wein lesen.

Beim Treffen der EU-Innenminister hat der französische Präsident Sarkozy nun einen Europäischen Einwanderungs- und Asylpakt vorgestellt. Auch er setzt auf vorübergehende Arbeitsmigration weil er hofft, dass so weniger illegale Einwanderer nach Europa drängen. Werden die Flüchtlingsboote im Mittelmeer so leerer?

Weltweit gibt es 190 Millionen Flüchtlinge. Viele von ihnen wollen nach Europa. Natürlich können wir nicht alle aufnehmen. Vor allem müssen wir gegen diejenigen vorgehen, die am Elend der Menschen verdienen: Menschenhändler und Schlepper. Organisierte Kriminalität darf keinen Erfolg haben. Darum müssen wir die Illegalen zurück in ihre Heimatländer schicken.

Länder wie Spanien haben es genau anders gemacht – sie haben Illegalen den Aufenthalt erlaubt.

Solche Massenlegalisierungen sind falsch. Doch können wir die Leute nur dann schnell zurückführen, wenn ihre Herkunftsländer sie wieder aufnehmen. Dazu sind die eher bereit, wenn wir wenigstens einigen ihrer Bürger eine Chance geben, legal nach Europa zu kommen und einige Zeit hier zu arbeiten. Mit dem ghanaischen Innenminister habe ich kürzlich darüber gesprochen. Er hat mir erklärt, viele der bei uns illegal lebenden Ghanaer seien in ihrer Heimat Helden, weil sie viel Geld nach Hause schicken. Der Minister hat um eine gewisse Quote für Leute gebeten, die in Deutschland bleiben dürfen. So falle es ihm leichter, die Rücknahme der anderen zu vertreten. Das ist ein interessanter Vorschlag. Auch weil wir uns die Leute dann aussuchen können, die bei uns bleiben.

Also nicht nur polnische Lehrlinge, sondern auch afrikanische?

Nein, nicht ausgerechnet Lehrlinge. Aber zum Beispiel Ärzte oder Krankenschwestern. Wenn die einige Zeit in Europa waren, ist das sicher für Ghana von Vorteil. Allerdings hätte Ghana nichts davon, wenn sie für immer bei uns blieben. Temporäre Migration kann eine gute Sache sein.

Eine Harmonisierung von Asylverfahren der EU lehnen Sie ab. Was ist gut daran, wenn ein Tschetschene in Schweden Asyl bekommt, aber bei uns nicht?

Dass die Anerkennungsquote etwa für tschetschenische Asylbewerber in einem Land der EU deutlich höher ist als in einem anderen, kann nicht richtig sein. Denn wir entscheiden alle auf derselben Rechtsgrundlage, der Genfer Flüchtlingskonvention. Deswegen haben wir verabredet, dass wir in der EU immerhin die Informationen austauschen, die den Entscheidungen für eine Asylvergabe zugrunde liegen.

Mit dem Ziel, die Vergabe zu europäisieren?

Nein, es geht um einen Informationsaustausch. Die Asylvergabe europäisieren wir nicht. Dann müssten wir auch die Sozialleistungen für anerkannte Asylbewerber harmonisieren. Und wir müssten zu einem System kommen, wie die Asylbewerber auf die europäischen Länder verteilt werden. Dahin ist es noch ein langer Weg. Deutschland hat zudem einen großen Überhang an Asylbewerbern aus den späten achtziger und den neunziger Jahren. Den müssen wir – auch im Hinblick auf die Integration – erst einmal bewältigen. Aber wir beteiligen uns dennoch im europäischen Rahmen an humanitären Aktionen, etwa bei den Flüchtlingen aus dem Irak.

Warum warten wir bei der Aufnahme irakischer Flüchtlinge auf eine Entscheidung der EU?

Das tun wir ja nicht. Wir haben allein im ersten Halbjahr 2008 mehr als 4500 Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen. Das Problem der Irak-Flüchtlinge ist so groß, dass wir es nicht der Region überlassen können. Da muss Europa bereit sein, einen Teil derer, die nicht in den Irak zurückkehren können, aufzunehmen.

Kann Deutschland bei der Aufnahme christlicher Flüchtlinge aus dem Irak nicht vorangehen?

Wir haben die Initiative für eine europäische Aktion ergriffen. Und ich setze mich dafür ein, dass wobei der nächsten Ratssitzung Ende Juli eine gemeinsame Aufnahmeaktion in die EU beschließen. Deutschland hat übrigens in den vergangenen Jahrzehnten mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere europäische Land. Wir sind nicht unbarmherzig gegenüber Flüchtlingen.

Wann werden die ersten Irak-Flüchtlinge zu uns kommen?

Ich denke, dass wir im Frühherbst in der Lage sein werden, die ersten Flüchtlinge im Zuge einer europäischen Aktion aufzunehmen. Wir wollen das in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) tun. Wir werden aber selbst aussuchen, wer zu uns kommen soll. Dabei werden wir uns vor allem religiös verfolgter Minderheiten annehmen. Für muslimische Flüchtlinge ist stärker das Engagement islamisch geprägter Länder gefragt.

Wie viele sollen kommen?

Ich möchte noch keine Zahlen nennen. Die Lasten sollten aber verteilt werden, auch wenn wir keine strenge Proportionalität unter allen 27 Mitgliedstaaten erreichen werden. Auch die neuen Mitgliedstaaten der EU werden sich auf Dauer bei solchen humanitären Aktionen nicht heraushalten können. Es ist für die Bevölkerung bei uns leichter zu akzeptieren, wenn alle mitmachen.

Ein anderes, in der Bevölkerung umstrittenes Thema ist die Zukunft der Atomenergie in Deutschland. Ist das ein gutes Wahlkampfthema für die Union?

Ich bin, wie die meisten in der Union und wie die Bundeskanzlerin, der Meinung, dass wir angesichts der weltweiten Knappheit von Energie auf die Kernkraft nicht verzichten können. Es gibt derzeit weltweit kein verantwortbares Energiekonzept, das ohne Kernenergie auskommt. Deutschland ist in der Energiepolitik heute in der Lage des Geisterfahrers auf der Autobahn, der im Verkehrsfunk die Warnung vor einem entgegenkommenden Falschfahrer hört und dann ruft: Einer? Nein, alle! Natürlich wollen die Menschen im Wählkampf wissen, welche Konzepte die Parteien für die Zukunft vorschlagen. Da sagt die Union: Wir sind für einen Energiemix inklusive Kernenergie.

Die CDU hat sich durch moderne Positionen in der Familienpolitik oder der Integrationspolitik den jüngeren, städtischen, oft grün wählenden Mittelschichten geöffnet. Jetzt stößt man die vor den Kopf : indem man sagt: Kernkraft ist Öko-Energie. Ist das schlau?

Wir machen Familienpolitik oder irgendeine andere Politik nicht, weil wir auf einen Koalitionspartner schielen. Wir versuchen zu tun, was richtig ist. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen ist richtig, Integrationsdefizite abzubauen ist richtig, und das Verhältnis zu den Muslimen in Deutschland zu verbessern ist es auch. Wenn dann die Vorsitzende der Grünen sagt, diese Idee hätte Rot-Grün eigentlich auch haben können, dann sage ich: Ihr hattet sie aber nicht, sondern wir machen das jetzt. Ich glaube, wir haben in der Energiepolitik die besseren Argumente. Darüber können wir vortrefflich streiten.

Die Fragen stellten Oliver Hoischen und Markus Wehner.

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