„Die Einheit ist nie vollendet, das ist ein immerwährender Prozess. Aber wir haben eine Gemeinschaft, wir haben Zugehörigkeitsgefühl. Wir fühlen uns alle als Deutsche und wir identifizieren uns damit.“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Deutschlandfunk

Sandra Schulz: Herr Minister, 20 Jahre Deutsche Einheit begehen wir genau heute in einer Woche, am 3. Oktober. Welche Versprechen sind noch unerfüllt?

Dr. Wolfgang Schäuble: Na gut, es sind vielleicht manche Erwartungen, die die Menschen damit verbunden haben, noch nicht so ganz erfüllt. Viele haben ja damals gedacht, in der ehemaligen DDR, es würde quasi über Nacht so werden wie sie geglaubt haben, dass es in der Bundesrepublik ist. Und in der Bundesrepublik haben viele geglaubt, es würde sich nicht so viel ändern, wenn Sie nur an die Debatte um Bonn und Berlin sich ein wenig erinnern. Und jetzt haben wir festgestellt, dass natürlich 20 Jahre Einheit 20 Jahre nach der Ost-West-Teilung, wir schon ein ganzes Stück weit, auch durch die Globalisierung, ein anderes Land geworden sind. Jetzt schieben wir manche Probleme noch auf die Wiedervereinigung, aber sie haben eigentlich mehr damit zu tun, dass unsere Welt sich überall in der Welt, aber auch in unserer Gesellschaft rasant ändert.

Schulz: Die Erwartungen haben natürlich mit den Versprechungen auch zu tun. Das Stichwort von den blühenden Landschaften muss hier an der Stelle fallen. Hätte es vielleicht gar nicht so formuliert werden sollen?

Schäuble: Nun gut, wer durch die neuen Bundesländer fährt und sich noch erinnert, wie es in der DDR ausgesehen hat, wird schwer bestreiten können, dass dieses Wort vielfältig erfüllt worden ist. Das Wort ist vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl gebraucht worden, weil er natürlich den Menschen auch Hoffnung, Mut machen wollte, den Menschen, gerade auch in der alten Bundesrepublik. Mit mehr Wohlstand fürchten wir uns ja gelegentlich eher vor Veränderungen. Und man musste sich ja darauf einlassen. Man muss sich immer wieder auf Veränderungen einlassen. Das ist mit der Integration nicht anders und mit vielen anderen neuen Herausforderungen auch in der Globalisierung mit der Verteidigung des Euro. Dazu braucht man ein bisschen Mut, und das wollte er machen. Das ist dann ein bisschen karikierend überzeichnet worden.

Schulz: Im vergangenen Jahr haben sie in einem Interview gesagt, dass viele Ostdeutsche viel enttäuschter seien, als viele Westdeutsche sich das überhaupt vorstellen können. Warum ist das so?

Schäuble: Ja gut, weil natürlich die Menschen in Ostdeutschland viel mehr an Veränderungen aushalten mussten, als man sich das im Westen vorstellen kann. Und da wir uns ja alle mit Veränderungen, oder viele, nicht ganz so leicht tun, finde ich einfach, ist es gut, wenn man nicht glaubt, für die wird alles nur besser und wir müssen abgeben. Das ist ja auch so eine Debatte, die es auch bei mir in meiner Heimat in Baden-Württemberg gelegentlich gegeben hat. Da werden die Straßen nicht so schnell gebaut, weil das Geld in die neuen Bundesländer fließt, und dergleichen mehr. Ich glaube, dass das nicht so zutreffend ist. Wir müssen sehen, es verändert sich viel, die Menschen müssen mehr an Veränderungen aushalten. Und noch immer müssen sie ja damit leben, dass viele materielle Dinge in den neuen Bundesländern noch ein bisschen unter dem Niveau wie in vielen Teilen Westdeutschlands sind, obwohl man es nicht mehr durchgehend sagen kann, dass ein Unterschied zwischen Ost und West ist. Es gibt auch sonst zwischen Nord und Süd viele Unterschiede.

Schulz: Ist es denn so, dass Westdeutschland im Jahr 2010 dem Westdeutschland im Jahr 1990 wirklich so viel ähnlicher war als Ostdeutschland 2010, im Vergleich zum Ostdeutschland 1990?

Schäuble: Nein, ich habe ja schon versucht zu sagen, es verändert sich in unserer Zeit unheimlich viel. Das hat gar nichts mit West- und Ostdeutschland zu tun, sondern mit den rasanten Fortschritten in der Wissenschaft und Technik, nicht zuletzt in der Kommunikationstechnologie, die unsere Gesellschaft verändert, in der Globalisierung, der Veränderung unserer Arbeitswelt und vieles andere mehr. Und manche glauben, das hätte nur mit der Wiedervereinigung zu tun oder haben es geglaubt. Das spielt auch eine Rolle, aber es ist eben nicht alles darauf zurückzuführen. Und deswegen, wir verändern uns ständig. Das ist ja auch gut so. 20 Jahre ist ja keine kurze Zeit, das ist die Hälfte der Zeit der Teilung, 40 Jahre lang waren wir geteilt. Und wenn Sie mal bedenken, wie sich die alte Bundesrepublik von 49 bis 69 erinnert hat, dann ist der Unterschied auch groß gewesen.

Schulz: Und eine Veränderung, die viele Bürger zumindest ausmachen – oder meinen auszumachen – ist, dass sie sagen – das haben 60 Prozent jüngst im Deutschlandtrend gesagt -, dass sich die soziale Gerechtigkeit verschlechtert habe zwischen 1990 und 2010. Was sagen Sie denen?

Schäuble: Da ist etwas dran. Die Unterschiede zwischen den Erfolgreichen und den Wohlhabenden und den Vermögenden und den anderen werden in der Welt der Globalisierung größer. Das kommt nicht durch die Deutsche Einheit, sondern das kommt übrigens überall auf der Welt, überall in Europa, überall auf der Welt – schauen Sie mal nach China – durch diese unglaubliche Veränderung, die eine sich globalisierende Welt entwickelt, wo der wirtschaftliche Austausch, also der Wettbewerb um Arbeitsplätze, auch durch niedere Kosten beispielsweise, mit allen Teilen der Welt stattfindet. Und das verändert natürlich wahnsinnig. Und wenn wir nicht gegensteuern, das haben wir in der Finanz- und Bankenkrise vor zwei Jahren schmerzlich lernen müssen, und manche wollen die Lehren schon wieder vergessen, wenn wir nicht immer wieder gegensteuern, dann werden die Unterschiede noch größer.

Schulz: Also werden der Einheit teilweise auch Dinge in die Schuhe geschoben unberechtigterweise?

Schäuble: Ja, das glaube ich schon. Allerdings, es ist ja auch nicht alles negativ. Die meisten Menschen glauben schon, dass es heute besser ist, als es vor 20 oder 40 Jahren gewesen ist. Und wenn Sie in unsere Gesellschaft hineinhören, dann sind die meisten Menschen sich ja durchaus bewusst, dass wir in besseren Zeiten leben.

Schulz: Trotzdem gibt es unheimlich viele Ostdeutsche, die nach wie vor sagen, sie fühlten sich nicht als richtige Bundesbürger. Woran liegt das? Liegt das an der Erwartungshaltung vielleicht auch der Westdeutschen, die davon ausgegangen sind: So, jetzt werden die Ostdeutschen so wie wir?

Schäuble: Das mag so sein, und das war natürlich dann auch ein Irrtum. Warum sollten sie? Man passt sich nicht einfach nur an die anderen an. Man beeinflusst sich ja gegenseitig. Im Übrigen ist es natürlich so, manche der Menschen, die in der DDR gelebt haben, insbesondere meine Generation – ich bin ja 1942 geboren und habe bis 1989/90 natürlich schon völlig auf die alte Bundesrepublik bezogen gelebt. Und so war es mit den Menschen. Wenn ich an Lothar de Maizière, meinen Freund, denke, der zwei, drei Jahre älter ist als ich und der genau so auf die DDR bezogen gelebt hat, dann stellen wir natürlich fest, wenn wir uns unterhalten, wir haben schon den Großteil unseres aktiven Lebens in ganz unterschiedlichen Erfahrungswelten gelebt. Und nun wird das, was das Leben der Menschen in der DDR war, fälschlicherweise gleichgesetzt mit dem System. Dieses System hat ja die Menschen unterdrückt und bespitzelt. Aber die Menschen haben ein Leben, und sie haben auch unter diesem diktatorischen Bespitzelungssystem und unter dieser furchtbar bornierten Bürokratie ihr Leben gelebt und sie waren auch glücklich und sie haben auch versucht, anständige Menschen zu sein. Aber der Respekt vor ihrer Lebensleistung, das finden sie, ist nicht so groß, weil sie ein Stück mit dem System identifiziert werden. Und darin steckt auch ein Problem.

Schulz: Und darauf hätte man im Einigungsprozess nicht sensibler auch reagieren oder das stärker auch antizipieren müssen, fragen, welche Erfahrungen haben die Ostdeutschen gemacht? Was hat sich im Osten bewährt, was vielleicht auch für die neue Bundesrepublik sich bewähren könnte?

Schäuble: Ja schauen Sie, vom politischen System hat sich im Osten nicht so viel bewährt. Und die Menschen in der DDR haben ja die friedliche Revolution gemacht, nicht weil sie ihr System erhalten wollten, sondern weil sie möglichst schnell so leben wollten, wie sie es geglaubt haben, dass die Menschen in Westdeutschland leben, wie sie es aus dem Fernsehen kannten.

Schulz: Ja, aber Sie haben das politische System ja eben auch ganz klar getrennt von dem Leben, das viele Menschen geführt haben. Und jetzt stellen wir fest, es gibt diesen grünen Abbiegerpfeil, der hat sich im Westen durchgesetzt. Warum gibt es da keine weiteren Beispiele, oder kaum?

Schäuble: Sie müssten die Menschen selber fragen, was sie denn gerne aus den Zeiten der DDR bewahrt hätten. Aber Sie hätten sie 1990 fragen müssen. Und damals war der Wunsch ganz eindeutig. Sie werden ja sehen, Sie können es ja noch einmal nachvollziehen: Im Wahlkampf zur freigewählten Volkskammer am 18. März 1990 hat ja die Frage eine große Rolle gespielt, ob man die DDR reformieren wolle, also erhalten, was erhaltenwert erschien und gleichzeitig die demokratischen rechtsstaatlichen Mängel abbauen, oder ob man möglichst schnell auf eine schnelle Einheit setzen wolle. Die große Mehrheit der Bevölkerung in der DDR hat auf schnelle Einheit gesetzt und demokratisch so entschieden. Und das muss dann die Minderheit schon respektieren. Das war die Enttäuschung der Bürgerbewegung. Bärbel Bohley ist in diesen Tagen gestorben. Die hat dem oft genug Ausdruck verliehen. Aber sie musste einsehen, ihre Position war die einer kleinen Minderheit in der DDR-Bevölkerung.

Schulz: Herr Schäuble, wenn wir noch einen Moment im Hier und Jetzt bleiben, das, was wir gerade besprochen haben, was heißt das für das Ziel, das man sich gesetzt hat, 1990, gleiche Lebensverhältnisse in Ost wie in West?

Schäuble: Na, gleiche Lebensverhältnisse steht nun nicht in meinem Grundgesetz. Wir wollen gleichwertige Lebensverhältnisse, wir wollen nicht alles gleichmachen. Die Unterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Bayern sind so groß wie die zwischen Teilen des Ruhrgebiets und Baden-Württemberg oder was immer. Es muss einen Ausgleich geben, es muss gleichwertig sein, aber es müssen die Unterschiede erhalten bleiben. Sonst bräuchten wir kein föderales System.

Schulz: Im Osten kommt die Wirtschaftskraft auf rund 70 Prozent des Westniveaus, das Lohnniveau ist bei rund 85 Prozent. Was macht Sie da so sicher, dass das alles so gleich oder gleichwertig ist, wie Sie es gerade skizzieren?

Schäuble: Ich sagte ja, die Unterschiede innerhalb der alten Bundesländer sind ähnlich groß. Im Übrigen haben wir beispielsweise in diesem Jahr die glückliche Entwicklung, dass in der relativ günstigen Entwicklung am Arbeitsmarkt, die wir dieses Jahr haben, die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern stärker abnimmt als in den alten Bundesländern. Das heißt, wir nähern uns weiter aneinander an. Auch das Lohnniveau hat sich im Laufe der Jahre aneinander angenähert. Also, wir sind auf dem richtigen Weg, aber es ist schwieriger, als man 1990 erwartet hat, das ist wahr.

Schulz: Die gleichwertigen Lebensverhältnisse – Sie haben es gerade gesagt, im Grundgesetz stehen sie nicht, aber im Koalitionsvertrag schon -, bis 2019, das ist das aktuelle Ziel, sollen die gelten. Nach all dem, was Sie gerade sagen, ist es schwieriger als wir gedacht haben und eben mit Blick auf die wirtschaftliche Lage. Heißt das, von dem Ziel können wir uns eigentlich jetzt schon verabschieden?

Schäuble: Nein, es kommt immer darauf an, was man darunter versteht. Wenn man meint, es muss alles einheitlich und völlig gleich sein, dann sollten wir uns schnell davon verabschieden, weil es ja den Reichtum Deutschlands untergraben würde. Der Reichtum Deutschlands liegt ja in seiner Vielfalt. Aber dass wir bis 2019 den Solidarpakt haben und damit noch für den Ausgleich früherer Benachteiligungen arbeiten und auch mit erheblichen Steuermitteln und mit erheblichen Transferleistungen, das ist ja in Ordnung und wird im Ernst auch nicht von irgendjemand infrage gestellt. Und es zeigt, diese Gesellschaft hat ja durchaus die Bereitschaft, über einen langen Zeitraum – es sind dann 30 Jahre – große Anstrengungen für die Herstellung einheitlicher oder gleichwertiger Lebensverhältnisse zu machen und vor allen Dingen auch große Anstrengungen, um die Wunden von 40 Jahren Teilung und Diktatur zu heilen.

Schulz: Aber kritische Stimmen gibt es ja doch. Vor allem gibt es immer mehr Bürger in Westdeutschland, die sich fragen, was soll im Osten eigentlich noch aufgebaut werden, gerade wenn sie jetzt nach Dresden oder Leipzig reisen. Was sagen Sie denen?

Schäuble: Na gut, ich meine, das ist der Vorteil der Demokratie, dass es unterschiedliche Meinungen gibt und damit auch kritische Stimmen. Das wollen wir doch auch um Himmels willen nicht abschaffen. Und dass natürlich viele auch in Westdeutschland sagen, wenn man sieht, wie schön Dresden geworden ist, und vieles andere mehr, dann gibt es solche Stimmen auch. Aber deswegen muss man ja nicht davon Abstand nehmen, die richtigen Entscheidungen auch weiterhin zu vertreten und auch zu treffen. Und das tun wir ja.

Schulz: Ich würde mit Ihnen gerne jetzt noch einmal zurückschauen auf den Einigungsprozess selbst. Können Sie uns einen Punkt nennen, über den Sie sagen würden, das ist etwas, da haben wir uns wirklich vertan, da haben wir eine Chance vertan oder etwas falsch gemacht?

Schäuble: Na, wir waren sicher sehr zurückhaltend bei der Frage der Anerkennung mancher Berufs- und Bildungsabschlüsse. Da war die Bürokratie – sie war ja im Wesentlichen Ländersache gewesen – aber trotzdem, da war man schon im Westen sehr davon überzeugt, dass wir das Maß aller Dinge waren in der Bundesrepublik. Dass Erzieherinnen, wenn sie eine entsprechende Qualifikation in der DDR erworben hatten, nicht als Erzieherinnen arbeiten konnten, ist nur so ein Beispiel. Da hätte ein bisschen mehr Großzügigkeit sicherlich uns gut getan, so wie wir ja heute ganz parallel darüber reden, ob wir die Berufsanschlüsse von Menschen, die zu uns gekommen sind aus anderen Ländern, anerkennen sollen oder nicht. Gleichzeitig klagen wir über Facharbeitermangel. Aber wir sagen, ein Ingenieur, der in einem osteuropäischen Land seine Ausbildung gemacht hat, der erfüllt möglicherweise nicht die Anforderungen hier. Da könnte man auch ein Stück weit offener sein. Aber darüber ist lange genug diskutiert worden und die Sache ist entschieden. Ich habe zu den wenigen in Bonn gehört, die dafür eingetreten sind, dass wir nicht gleich, quasi über Nacht, die ganze bundesdeutsche Rechtsordnung einführen, sondern das schrittweise tun. Aber dafür gab es damals keinen Konsens, weder in Bonn noch am Ende in der Regierung der DDR.

Schulz: Und die eigentliche Einheit, so wie sie vollzogen worden ist, war die nach der ganzen Euphorie Ende 1989, nach dem Fall der Mauer, war das für sich genommen nicht mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu technisch?

Schäuble: Na gut, das ist die rechtliche Formulierung, und die ist ja auch insoweit in Ordnung. Sie haben schon recht. Wenn Sie so wollen, hat die Wiedervereinigung der Deutschen an dem Wochenende nach dem Fall der Mauer stattgefunden, als viele Millionen aus der DDR zu Besuch in der Bundesrepublik waren und nirgends schlechte Laune war. Es war ein Fest des Wiedersehens und, wenn Sie so wollen, auch der Wiedervereinigung. Und dann natürlich muss diese emotionale Stimmung im Alltag umgesetzt werden in eine rechtliche Ordnung. Dazu haben wir den Einigungsvertrag gebraucht. Den haben wir im Wesentlichen auch nach dem Urteil der meisten Beobachter gut gemacht. Aber das ist nicht das Eigentliche. Das Eigentliche ist, dass wir nicht mehr geteilt sind, dass wir, so wie es das Ziel war, die Einheit in Frieden und Freiheit erreicht haben und dass wir Teil eines zusammenwachsenden Europas sind, dass auch die Polen, die Tschechen, die Ungarn, die Slowenen und Slowaken mit dazugehören. Das ist doch ein ungeheurer Gewinn. Es ist ein Prozess. Die Einheit ist nie vollendet, das ist ein immerwährender Prozess. Aber wir haben eine Gemeinschaft, wir haben Zugehörigkeitsgefühl. Wir fühlen uns alle als Deutsche und wir identifizieren uns damit und wir leiden aneinander, wir streiten, aber das tun die Badener und die Württemberger auch seit 100 Jahren. Das gehört mit dazu zu Vielfalt eines föderalen Gebildes.

Schulz: Aber es treibt ja viele DDR-Bürgerrechtler auch bis heute um. Es war ja technisch nicht der einzig mögliche Weg über Artikel 23, über den Beitritt zum Grundgesetz. Die andere Option wäre gewesen Artikel 146, neue Verfassung, Volksabstimmung. Das deutsche Volk gibt sich eine dann ja erste Verfassung. Wir haben ja im Moment immer noch das Provisorium Grundgesetz. Ist das nicht eine historische Chance gewesen, die da vertan wurde?

Schäuble: Nein. Erstens ist das Grundgesetz kein Provisorium mehr. Wenn Sie sich die Präambel des Grundgesetzes, die wir ja in dem Einigungsvertrag neu formuliert haben, dann ist das Grundgesetz kein Provisorium mehr, sondern es ist die Verfassung des wiedervereinten Deutschland. Zweitens, es war die Entscheidung der übergroßen Mehrheit der Menschen in der DDR. Und in der Bundesrepublik wäre die übergroße Mehrheit, wenn sie hätte entscheiden müssen, genau derselben Meinung gewesen. Dass nicht alle hundertprozentig damit einverstanden sind, ist in Ordnung. Das gehört zur Demokratie. Aber die Minderheit muss dann schon einmal respektieren, dass die Mehrheit anders entscheiden hat. Das tun die auch. Einer wie Joachim Gauck war auch anderer Meinung, wenn ich mich recht erinnere. Aber er kommt nicht im Traum auf die Idee, die Legitimität dieser Entscheidung infrage zu stellen, denn die Mehrheit hat entschieden. So ist das in der Demokratie. Und das muss man dann irgendwann, wenn man Minderheit ist, auch akzeptieren.

Schulz: Ich möchte mit Ihnen noch über ein weiteres Thema sprechen, das die Union zurzeit umtreibt. Es geht um die Diskussion um das konservative Profil. Roland Koch hat sich zurückgezogen, Erika Steinbach will nicht mehr der CDU-Spitze angehören. Sie sagt, sie fühle sich als Konservative da mehr und mehr allein. Fühlen Sie sich auch schon einsam in Ihrer Partei?

Schäuble: Ich halte von der Debatte ziemlich wenig, denn für mich ist die CDU immer die große Volkspartei der Mitte gewesen, die natürlich konservative Elemente hat, aber christliche auch, liberale auch, soziale auch. Und in dem Moment, wo man den Gedanken der Volkspartei, der ja heißt, man muss sich um Lösungen bemühen, die für alle Teile der Gesellschaft akzeptabel sind – das ist der Unterschied zur Klientelpartei, dass wir uns um Lösungen wieder und wieder bemühen. Ob es uns immer gelingt, ist eine Frage. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber das Bemühen. Das Ziel ist, Lösungen zu finden, die für Alt und Jung geeignet sind, für Unternehmer und Arbeitnehmer. Und deswegen halte ich von dieser Aufteilung in verschiedene, scheinbar zu verabsolutierende Profilbezeichnungen relativ wenig. Ich bin in Teilen ein konservativer Mensch, aber ich bin eben Mitglied der christlich-demokratischen Union. Ich bin ein sehr freiheitlich rechtsstaatlich veranlagter Mensch. Ich habe eine ausgeprägte soziale Neigung und Ader, und deswegen kann ich das auch nicht so akzeptieren. Im Übrigen, die Etikettierung, am besten noch die Selbstetikettierung, wer konservativ ist und wer nicht, es tut mir leid, das Argument, Polen habe ja schließlich mit seiner Mobilmachung im Herbst 1939 auch einen Beitrag zum Zweiten Weltkrieg geleistet, ist für mich allenfalls unsinnig. Aber mit konservativ hat das nichts zu tun.

Schulz: So ähnlich hat Angela Merkel neulich ja auch geantwortet.

Schäuble: Ja, die denkt auch so ähnlich wie ich. Sie ist auch die Vorsitzende meiner Partei.

Schulz: Trotzdem haben sie die Frage jetzt noch nicht beantwortet, woran man denn merkt, dass die CDU auch diese konservative Wurzel hat.

Schäuble: Das merken Sie daran, dass wir nicht diesem Kult anhängen, dass alles, was neu ist, schon deswegen besser ist, sondern dass wir prüfen. Wie es schon im Neuen Testament heißt: Prüfet alles und behaltet das Gute. Dass wir auch bewahren wollen, das was sich bewährt hat.

Schulz: Also die Wehrpflicht ist nicht gut? Die soll ja ausgesetzt werden.

Schäuble: Das kann man so nicht sagen. Die Wehrpflicht war gut, sie hat große Vorzüge. Aber ob sie noch geeignet ist, um die sicherheitspolitischen Anforderungen an Deutschland und an unsere Bündnispflichten im Jahre 2010 zu erfüllen, da sind die meisten, die sich unter sicherheitspolitischen Aspekten mit der Frage beschäftigen, der Meinung, dass sie dafür nicht mehr die richtige Form derzeit ist. Das ist auch konservativ, dass man auf der Grundlage von Überzeugungen Entscheidungen trifft, die für Gegenwart und Zukunft geeignet sind und nicht nostalgisch an der Vergangenheit hängt und sagt, wenn es noch wäre wie im Ersten Weltkrieg, dann bräuchten wir die Wehrpflicht. Das ist nicht mehr so. Das habe ich jetzt ein bisschen karikierend überzeichnet, aber das Prinzip konservativ, wenn überhaupt, ist für mich eher, eine feste Wertbasis zu haben, eine Vorstellung vom Menschen mit seinen großartigen Möglichkeiten, aber auch seiner Verführung immer auch zum Fehlerhaften. Der Mensch hat eine Doppelnatur und er kann auch seine Freiheit, wenn er keine Regel, keinen Rahmen hat – haben wir bei den Finanzmärkten gesehen – durch Übertreibung zerstören. Dieses zu wissen und daraus dann zu sagen, jetzt ist die Welt im Jahre 2010 wie sie im Jahre 2010 ist und nicht, wie wir in einer romantischen Verklärung glauben, dass sie in der Biedermeierzeit gewesen ist, für die müssen wir die richtigen Entscheidungen treffen. Das ist für mich das Anliegen einer Volkspartei.

Schulz: Herr Schäuble, es geht im Einzelnen aber natürlich um ganz konkrete Entscheidungen. Es geht um den Ausbau der Kleinkindbetreuung, eben, worüber wir schon gesprochen haben, die Aussetzung der Wehrpflicht. Thilo Sarrazin, der Sozialdemokrat, ist von Angela Merkel nicht kritisiert worden, weil seine Thesen zu weit links gewesen wären. Die Wähler, die die CDU nicht konservativ finden, in welchen Positionen finden die sich denn wieder?

Schäuble: Es tut mir furchtbar leid, der Ausbau frühkindlicher Erziehung im Jahre 2010, ist das nicht konservativ? Ist die Konzentration von Politik, die Prioritätensetzung für Integration, dass alle Menschen in dieser Gesellschaft teilhaben können, dass alle Kinder eine Chance haben, das ist im Übrigen nach Subsidiaritätsprinzip, wenn wir sehen, ein wachsender Teil der Elterngeneration ist nicht mehr aus eigener Kraft, aus welchen Gründen immer, in der Lage, seine Kinder so zu erziehen, dass sie in dieser Welt zurechtkommen können, da muss der Staat doch, der freiheitliche, subsidiäre, demokratische Rechtsstaat ergänzend tätig sein. Also, die Priorität für Kinder, für Erziehung, für Bildung, Schule, Forschung, das ist doch, wenn Sie so wollen, konservativ im besten Sinne des Wortes. Und jetzt, mit Verlaub, bei Herrn Sarrazin, der hat ja nichts Neues gesagt, und Probleme beschreibt er ja auch nur. Wenn Integration gelingen soll, dann müssen wir denjenigen, die zu uns gekommen sind und in dieser Gesellschaft heimisch werden sollen und wollen, denen müssen wir sagen, ihr müsst euch auch anstrengen. Das ist wahr. Das ist auch nicht neu. Ich habe immer gesagt: Fördern und fordern. Aber wir müssen auch dem Rest der Gesellschaft sagen, ihr braucht euch vor denen nicht fürchten. Wir müssen nicht Fremdheitsgefühle noch ausbeuten. Es gibt da auch dann diese unsinnigen Thesen, das sei genetisch bedingt oder so. Also mit Verlaub, das ist einfach nur töricht. Das ist dann auch nicht konservativ, das ist albern. Und mit dem Mittel der Provokation: Meine Sorge ist, dass mit dieser Art von Debatte, wie sie da losgetreten worden ist, die Bereitschaft der Menschen, sich zu integrieren bei denjenigen, die noch mit Migrationshintergrund Bevölkerungsteil sind, genau so wenig gefördert wird wie die Bereitschaft der Menschen ohne einen Migrationshintergrund in jüngerer Vergangenheit, sich darauf einzulassen, dass andere zu uns gekommen sind. Das wird dadurch nicht verbessert, sondern unsere Gesellschaft wird stärker gespalten. Das heißt, die Probleme, die man durch die Provokation angeblich bekämpfen will, werden dadurch verstärkt.

Schulz: Sagt der auch frühere Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Zum Schluss noch die Frage an den aktuellen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble: Anfang der Woche sollen die neuen Regelsätze für die Hartz IV-Empfänger bekannt gegeben werden. 480 Millionen Euro stehen im Haushalt dafür zur Verfügung. Was, wenn die nicht reichern?

Schäuble: Nein, es stehen nicht für die Regelsätze 480 Millionen zur Verfügung, sondern für den zusätzlichen Bedarf gibt es die Planung. Den Rest muss das Bundesarbeitsministerium aus seinem Etat erwirtschaften. Der ist groß genug. Der Etat des Bundesarbeitsministeriums ist ja mit Abstand der größte Einzeletat innerhalb der Bundesregierung. Wir haben nie eine Festlegung getroffen, was das im Einzelnen in der Summe kostet, sondern wir haben gesagt, zusätzliche Mittel im Haushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung stellen wir ein in einer Größenordnung von 480 Millionen. Das ist völlig unstreitig mit der Arbeitsministerin gewesen und dabei bleibt es.

Schulz: Und die Sorge, dass auf den Finanzminister dann neue Arbeit, neues Umschaufeln dann zukommt, die haben Sie nicht?

Schäuble: Nein. Die Zahlen des Haushaltsentwurfs und auch der mittelfristigen Finanzplanung sind ja gerade vor ein paar Wochen einvernehmlich im Kabinett beschlossen worden. Daran halten sich alle Mitglieder des Kabinetts.

Schulz: Herr Minister, herzlichen Dank.

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