Das Prinzip Repräsentation



F.A.Z., 01.07.2021, Staat und Recht (Politik), Seite 6 – Ausgabe D1, D2, D3N, R0, R1 – 1590 Wörter
Das Prinzip Repräsentation
Verkannt, herausgefordert, unverzichtbar
Von Wolfgang Schäuble
Die Pandemie ist die jüngste in einer Reihe von Krisen, die uns schonungslos vor Augen führt, wie stark wir in globale Zusammenhänge eingebunden und wie komplex die Herausforderungen unserer vernetzten Welt sind. Die parlamentarische Demokratie setzt das gehörig unter Druck. Zugleich ist die Öffentlichkeit einer Flut von digitalen Informationen ausgesetzt – und fordert dennoch immer mehr Transparenz. Ohne Auswahl und Reduktion auf das Wesentliche geht Orientierung verloren. Darin liegt eine Chance für das repräsentative Prinzip: Denn Parlamente sind Orte der Bündelung, der Konzentration auf die wichtigen Fragen unserer gesellschaftlichen Zukunft, der Einordnung und der Diskussion. Allerdings braucht es auch ein gemeinsames Verständnis davon, was Repräsentation eigentlich meint – unter Wählern und Gewählten. Gelegentlich konnte man den Eindruck gewinnen, dass es daran fehlt.
Dabei ist das Grundgesetz eindeutig: Abgeordnete sind „Vertreter des ganzen Volkes“. Der Parlamentarische Rat hatte sich auf diese Formulierung erst nach einiger Debatte verständigen können. Einige Mitglieder wandten damals ein, Abgeordnete könnten immer nur einen Teil des Volkes vertreten. Durchgesetzt hat sich eine andere Auffassung: Den Mitgliedern des Bundestags sollte verdeutlicht werden, dass sie nicht Vertreter „eines Wahlkreises, einer Landschaft oder eines Stammes“ seien. Und die Verfassungswirklichkeit? Hier gerät schnell in den Blick, was der Staatsrechtler Florian Meinel als die „Repräsentativität der Repräsentation“ bezeichnet. Tatsächlich gibt es zu wenige Frauen im Bundestag. Das hat zur Forderung nach verbindlichen Quoten geführt. In Thüringen und Brandenburg wurde vorübergehend ein paritätisches Wahlrecht eingeführt, das Parteien verpflichtete, jeden zweiten Listenplatz mit Frauen zu besetzen. Diese Gesetze sind mittlerweile an den Landesverfassungsgerichten gescheitert, aus gutem Grund. Unsere repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger – ohne Rücksicht auf ihre soziokulturellen Merkmale. Das paritätische Wahlrecht verkehrt diesen Grundsatz ins Gegenteil. Konsequent zu Ende gedacht würde das einem identitätspolitischen Repräsentationsverständnis Vorschub leisten, wonach gesellschaftliche Gruppen am besten nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden: Zugewanderte durch Zugewanderte, Ostdeutsche durch Ostdeutsche und so weiter. Ein „Stammesdenken“, vor dem der Parlamentarische Rat gewarnt hat, würde unter gänzlich veränderten Vorzeichen Wirklichkeit.
Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird auch in sozialer Hinsicht Defizite finden. Studien zeigen, dass Menschen mit einem niedrigen Schulabschluss weniger am politischen Leben teilhaben. Sie gehen seltener zur Wahl – und werden auch seltener gewählt. Die allermeisten Bundestagsabgeordneten sind Akademiker. Die Politikwissenschaftler Mark Bovens und Anchrit Wille sprechen darum von „Diplomiertendemokratie“ und kritisieren, dass ein großer Teil der Bevölkerung politisch „ungehört“ bleibe.
Entgegen der populären Vorstellung muss der Bundestag aber kein exaktes Spiegelbild der Gesellschaft sein. Als Parlamentarier muss sich ein Jurist aus der Finanzverwaltung mit Fragen der Landwirtschaft vertraut machen, die Krankenschwester Entscheidungen zur Unternehmensbesteuerung treffen. Darin besteht das Mandat von Abgeordneten: Sie vertreten die Repräsentierten nicht durch ihre Person, sondern durch ihre Politik.
Unübersehbar ist jedoch, dass die Politik der Repräsentanten Teile der Repräsentierten immer weniger überzeugt. Populistische Parteien machen sich diese Repräsentationslücke zunutze. Ihr Erfolg weist darauf hin, dass sich der politische Diskurs verengt hat. Nicht jeder, der die Pandemie-Politik hinterfragt, ist ein Verschwörungstheoretiker; nicht jeder, der sich wegen der Aufnahme von Flüchtlingen sorgt, ist ein Fremdenfeind und nicht jeder, der die europäischen Klimaziele anzweifelt, ein Klimaleugner. Wir müssen mehr Streit in der Mitte der Gesellschaft zulassen – und ihn öffentlich im Parlament austragen.
Die Parteien haben das mittlerweile verstanden und suchen nach Konzepten, angestammte Wählergruppen zu halten und zurückzugewinnen. Gewisse Zwänge könnten sie freilich nur um den Preis ihrer Seriosität ignorieren. Die Globalisierung erschwert es den Parlamentariern, Wählerwünschen zu entsprechen. Migration, Wirtschaftskrisen, Klimawandel – die wichtigen Zukunftsaufgaben lassen sich nicht allein im Rahmen des Nationalstaats bewältigen. Auch innerhalb Deutschlands verengen sich die parlamentarischen Gestaltungsräume, woran auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ihren Anteil hat. Der Aufstieg von Populisten ist eine Aufforderung an die Politik, Handlungsfähigkeit zu beweisen. Soweit das auf nationaler Ebene nicht mehr möglich ist, muss die Europäische Union gestärkt werden. Ebenso wie ihre parlamentarische Kontrolle.
Es ist zu einfach, die Unzufriedenheit mit der Politik allein dem Unvermögen der Parteien anzulasten. Unser Land ist sozial und kulturell vielfältiger geworden. Und die Menschen sind individualistischer. Sie binden sich immer weniger für längere Zeit. Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und Parteien spüren das. Ohne belastbare Gruppenbindungen wird es schwerer, Interessen zu bündeln, zu artikulieren und zu einem gemeinsamen Politikentwurf zusammenzufassen. Darin besteht die eigentliche Krise der Repräsentation.
Je schwächer die Parteien, desto lauter die Rufe nach mehr direkter Demokratie. Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren und Volksabstimmungen werden meist von den gebildeten Mittelschichten genutzt. Sie lösen das Problem unausgewogener politischer Beteiligung nicht; eher verstärken sie es. Zudem sind Zweifel angebracht, ob diese Instrumente besser in der Lage sind, mit den Zwängen der Globalisierung fertigzuwerden. Der Brexit hat gezeigt, dass es zu Verwerfungen führt, wenn komplexe Sachverhalte auf eine einfache Ja-nein-Entscheidung reduziert werden.
Auf einige Unzulänglichkeiten direktdemokratischer Verfahren reagiert das innovative Format zufällig zusammengesetzter Bürgerräte. Im Auftrag des Bundestags hat zuletzt ein Bürgerrat zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ getagt und ein Gutachten vorgelegt. Im Gegensatz zu Volksentscheiden handelt es sich dabei nicht um eine stimmungsanfällige Momentaufnahme, sondern um das Resultat intensiver Diskussionen – der Teilnehmer untereinander und mit Experten. Allerdings haben sich auch Schwächen gezeigt: Trotz des Zufallsprinzips ist es nicht gelungen, genügend Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss für eine Teilnahme zu gewinnen. Bürgerräte können wichtige Impulse liefern, den politischen Prozess mit Bürgern rückkoppeln und die Legitimation von Repräsentation erhöhen. Aber es muss geklärt werden, wie sich die Ergebnisse sinnvoll in die parlamentarische Arbeit einbringen lassen, um geweckte Erwartungen nicht zu enttäuschen. Denn entscheiden kann am Ende nur das demokratisch legitimierte Parlament.
Seit den Sechzigerjahren hat unsere Gesellschaft mehr Demokratie gewagt. Im Arbeitsleben und in Bildungsinstituten ist erfolgreich Mitbestimmung erstritten worden. Im Politischen verbindet sich heute vor allem mit dem Internet die Erwartung an einen Demokratisierungsschub. Noch nie war es so einfach, die eigene Meinung einem Massenpublikum mitzuteilen – ein Internetanschluss genügt. Noch nie war es so einfach, Gleichgesinnte zu mobilisieren – ein Aufruf in den sozialen Netzen genügt. So unterschiedliche Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder die Querdenker verdanken ihre Durchschlagkraft ihrer Online-Vernetzung. Sich einzubringen, politisch mitzureden und andere zu beeinflussen ist heute ganz einfach. Der Politikwissenschaftler Philip Manow spricht von der „Demokratisierung der Demokratie“. Mit paradoxen Folgen für die politische Willensbildung: Die klassischen Massenmedien funktionieren immer weniger als Filter und Mittler für den politischen Diskurs. Die Öffentlichkeit zerfällt in Teil-Öffentlichkeiten, die übereinander statt miteinander sprechen. Partizipation ohne Repräsentation fördert die Neigung, die eigene Meinung absolut zu setzen – mit der Folge einer zunehmend polarisierten Debatte.
Mehr Teilhabechancen heißt eben nicht automatisch mehr Partizipation – und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende getroffenen parlamentarischen Entscheidungen. Die immer höheren Partizipationserwartungen bringen vielmehr die Institutionen der repräsentativen Demokratie in Bedrängnis. Und auch die Parteien werden vom basisdemokratischen Sog erfasst. Immer öfter geraten sie unter den Druck innerparteilicher Strömungen oder werden zu Unterstützungsbewegungen charismatischer Führungspersönlichkeiten. Auf diese Weise lassen sich beachtliche Erfolge erzielen – das haben Sebastian Kurz oder Emmanuel Macron bewiesen. Ohne eine lebendige Partei wird es aber schwierig, sich längerfristig durchzusetzen. Parteien sind Institutionen, die Meinungen bündeln und Interessen ausgleichen. Wenn sie nur zur Mobilisierung dienen, unterminieren sie ihre eigene Daseinsberechtigung. Das schwächt die Legitimation der repräsentativen Demokratie insgesamt.
Die „Demokratisierung der Demokratie“ macht Repräsentation nicht entbehrlich. Erst parlamentarische Verfahren ermöglichen gründliche Analyse und sorgfältiges Abwägen. Das haben wir in der Pandemie erlebt. Vor allem bedeutet Repräsentation nicht nur Vertretung mobilisierbarer Interessen, sondern Ausgleich widerstreitender Positionen. Angesichts wachsender Vielfalt in der Gesellschaft werden Kompromisse immer wichtiger. Wir brauchen Parlamente als Orte des Gemeinsamen. Und als Orte der Verantwortlichkeit. Es sind die Parlamentarier, die sich am Ende den Wählerinnen und Wählern stellen müssen.
Die Zukunft der parlamentarischen Demokratie hängt von der Erneuerungskraft der Parteien ab. Ihrer Rolle für die politische Willensbildung werden sie nur gerecht, wenn sie sich auf die individualisierte Gesellschaft und den Strukturwandel der Öffentlichkeit einstellen. Dazu braucht es neue, attraktive Formen des Engagements, die Partizipation und Repräsentation in Einklang bringen. Es muss darum gehen, die Bürger in die Parteiarbeit einzubinden, ohne die Verantwortung durch Mitgliederentscheide und Urwahlen an die Basis abzuschieben. Das Beispiel der Piratenpartei zeigt, dass permanente Basisdemokratie zwar machbar, aber uneffektiv ist und die Frage nach der Verantwortung für Entscheidungen unklar bleibt.
Und gerade angesichts einer zersplitterten Öffentlichkeit braucht es politische Führung, also die Bereitschaft, für das als richtig Erkannte einzutreten, auch gegen Widerstände. Von Parteien wird der Mut erwartet, eine Richtung vorzugeben, Orientierung, und dafür die Konsequenzen zu tragen. Überzeugen werden Parteien nur, wenn sie die Konflikte in der vielfältigen Gesellschaft abbilden, bearbeiten und sich Widersprüchen stellen. Der Weg, gesellschaftliche Vielfalt im Parlament sichtbar zu machen, führt nicht über das Wahlrecht, sondern über die Parteien. Es ist in ihrem eigenen Interesse, die Veränderungen in unserem Land mitzuvollziehen und aktiv um Frauen zu werben – ebenso wie um Zugewanderte, um Jüngere, um Enttäuschte.
Gerade Volksparteien stiften Gemeinschaft. Sie verbinden Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Erwartungen – und das ist kein Manko. Parteimitglieder oder Anhänger müssen nicht in allem einer Meinung sein. Innerhalb einer Partei darf es Widersprüchliches geben. Bisweilen werden sich Positionen durchsetzen, die dem einen oder anderen Mitglied missfallen. In Parteien lernt man Toleranz und Kompromissfähigkeit. Sie sollten selbstbewusst dazu stehen, dass sie eine breite Vielfalt von Interessen bedienen – und die gemeinsame Grundhaltung schärfen. Das macht auch die Mitarbeit in einer Partei wieder attraktiver.
Die wichtigste Aufgabe von Parteien bleibt es, verantwortungsvolle Politiker hervorzubringen, die für ihre Werte und Haltungen einstehen – und die an dem Anspruch festhalten, „das ganze Volk“ zu repräsentieren. Am 26. September, dem Tag der Bundestagswahl, geben die Abgeordneten ihr Mandat zurück an den Souverän. Die Stimmabgabe ist dann der Moment, in dem jede einzelne Wählerin und jeder einzelne Wähler Verantwortung übernimmt – für das ganze Volk.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) ist Präsident des Deutschen Bundestages.