Bundesminister Dr. Schäuble in der Bundestagsdebatte zum Migrationsbericht 2006



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble in der Bundestagsdebatte zum Migrationsbericht 2006

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Phänomen der weltweiten Migration ‑ Ursache und Folge zunehmender Globalisierung zugleich ‑ tritt zunehmend an die Spitze auf der globalen politischen Agenda. Ohne umfassende Analyse der Migration würden wir mit unseren Konzepten für Zuwanderung, Flüchtlingsschutz und Integration nur schwer vorankommen. Deswegen brauchen wir aussagekräftige Statistiken und Berichte zur Entwicklung des Migrationsgeschehens. Mit dem Migrationsbericht 2006 legen wir einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Zu- und Abwanderung, über die rechtlichen Hintergründe der Zuwanderung und über die Struktur der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund vor.

Ich will ein paar Schlaglichter dieses Berichts kurz nennen: Der Wanderungssaldo 2006 von Deutschen und Ausländern war mit einem Plus von 23 000 Zuwanderern auf dem niedrigsten Stand seit 1984. Wir hatten 662 000 Zuzüge und 639 000 Fortzüge. Bei den Ausländern gab es einen Wanderungsüberschuss von rund 75 000 Personen. Bei den Deutschen gab es unter dem Strich eine Abwanderung von 59 000 Personen. Hauptziel für deutsche Auswanderer ‑ übrigens auch Hauptherkunftsland von deutschen Rückkehrern ‑ waren die Vereinigten Staaten von Amerika.

Im Zeitraum seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 bis Ende 2006 erhielten ‑ auch diese Zahl ist bemerkenswert ‑ 1 123 hochqualifizierte Ausländer eine Niederlassungserlaubnis nach § 19 Aufenthaltsgesetz. Es gab im Jahr 2006 gegenüber 2005 eine leichte Steigerung bei der Ersteinreise von Hochqualifizierten. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung liegt weiterhin bei rund 8,8 Prozent. Rund ein Viertel aller in Deutschland lebenden Ausländer ‑ es sind genau 25,6 Prozent ‑ sind türkische Staatsangehörige. Das ist damit die größte Gruppe ausländischer Zuwanderer in Deutschland. Knapp ein weiteres Viertel sind übrigens Bürger der Europäischen Union: 24,4 Prozent.

Noch eine Zahl: Im Jahr 2006 wurden 125 000 Personen eingebürgert, seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 insgesamt rund 1 Million. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2006 sind knapp 100 000 Personen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive aus Staaten außerhalb der Europäischen Union zu uns gekommen, davon 56 302 im Wege des Familiennachzugs, 7 747 Spätaussiedler, 29 466 zum Zwecke der Beschäftigung usw. Sie sehen an diesen Zahlen, dass sich bei Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive dieNotwendigkeit der Integration stellt; denn bei Zuwanderung mit der Perspektive, dauerhaft zu bleiben, ist es entscheidend, dass die Integration gelingt.

Die Zahlen, von denen der Migrationsbericht viele enthält ‑ ein paar habe ich genannt ‑, belegen ‑ deswegen haben ich sie so ausgewählt ‑, dass zur Dramatisierung in mancherlei Richtung nicht zu viel Anlass besteht. Durch die Zahlen kann man die Dinge vielmehr wieder auf den realen Kern zurückführen.

Wir wissen, dass die Defizite, die wir im Bereich der Integration haben, nicht durch die aktuellen Zuwanderungszahlen begründet sind. Wir wissen, dass diese Defizite vor allen Dingen bei Menschen der zweiten und dritten Generation bestehen, also bei Menschen, deren Eltern oder Großeltern vor Jahrzehnten zugewandert sind. Deswegen war es richtig ‑ ich will daran erinnern ‑, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode die Bekämpfung der Integrationsdefizite innerhalb der zweiten und dritten Generation zu einem Schwerpunkt der Politik in dieser Legislaturperiode erklärt hat. Die vielfältigen Bemühungen von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft ‑ Sport und vieles andere mehr ‑, die es diesbezüglich gibt, werden durch die Integrationsbeauftragte, die Kollegin Böhmer, koordiniert. Ich will darauf hinweisen, dass diese Bemühungen auch im Rahmen des Integrationsgipfels Schritt für Schritt vorangebracht werden. Ich glaube, dass wir schon ein gutes Stück vorangekommen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Bemühungen des Bundes sind nur ein Teil der Integrationsmaßnahmen; das muss man immer berücksichtigen. Die wichtigste integrationspolitische Einzelmaßnahme des Bundes ist der Integrationskurs. Im Jahr 2008 haben wir dafür Haushaltsmittel in Höhe von insgesamt rund 155 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Integrationskurse sollen dazu beitragen, dass Ausländer die Chancen, die unser Land allen bietet, besser nutzen können. Die Kurse sollen die gleiche Teilhabe dieser Menschen an unserer Gesellschaft stärken. Die Integrationskurse sind ein Erfolg. Seit 2005 haben über 27 000 Kurse begonnen. 185 000 Teilnehmer haben den Kurs bereits abgeschlossen. Wir evaluieren von Anfang an und beständig. Aus diesen Studien ziehen wir immer wieder Konsequenzen im Sinne von Verbesserungen: Wir haben die Stundenkontingente flexibler gestaltet, das Verfahren entbürokratisiert und finanzielle Anreize geschaffen; so wird beispielsweise nach erfolgreicher Teilnahme der Kostenbeitrag teilweise zurückerstattet. Das ist ein fortlaufender Prozess, wir kommen damit voran.

Ich will eine Bemerkung zur Sprache machen. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist zwar keine hinreichende Voraussetzung für gelingende Integration, aber es ist eine notwendige, damit Bildungschancen und Chancen auf dem Arbeitsmarkt genutzt werden können. Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt sind natürlich die eigentliche Voraussetzung für gelingende Integration. Sprachkenntnisse sind aber unerlässlich, damit diese Chancen genutzt werden können; deswegen ist das so wichtig.

Wir haben beschlossen, dass auch die Eltern der Kinder, insbesondere die Mütter, die deutsche Sprache lernen sollen. Das ist notwendig ‑ das sagen insbesondere die Lehrer der Schulen, die davon besonders betroffen sind ‑, damit wir nicht in jeder Generation wieder von vorne anfangen müssen. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Familiennachzug gesagt: Es ist besser, wenn bei Einreise zumindest ein Minimum an deutschen Sprachkenntnissen vorhanden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU ? Clemens Binninger (CDU/CSU): Sehr richtig! ‑ Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fragt sich nur, für wen das besser ist!)

Wir kommen damit voran. Ich habe mir das in der Türkei im vergangenen Jahr genau angeschaut. Die anfänglich befürchteten Schwierigkeiten sind längst weitgehend verschwunden. Es funktioniert und wirkt sich in der Praxis Schritt für Schritt aus.

Das bringt mich zu einer anderen Bemerkung: Integration kann nur gelingen, wenn sie alsProzess der Gegenseitigkeit verstanden wird. Wir brauchen Fördern und Fordern. Wir brauchen die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zur Offenheit, die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, Zuwanderer aufzunehmen. Wir brauchen aber auch die Bereitschaft der Zuwanderer bzw. der Zugewanderten, in diesem Land heimisch werden zu wollen. Auch das ist unerlässlich; das muss man sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen   nicht – dazu ist Deutschland viel zu dicht besiedelt und Europa viel zu kleinräumig und kleinteilig – Parallelgesellschaften entstehen lassen. Das ist das Gegenteil von gelingender Integration. Das ist keine gute Voraussetzung dafür, dass Toleranz, Offenheit und Friedlichkeit in unserem Land bewahrt werden. Wir wollen keine Parallelgesellschaften, sondern Integration; darauf müssen wir setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Angesichts von Erfahrungen mit Medien, die wir etwa im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe in Ludwigshafen gemacht haben, will ich noch einmal sagen: Es gibt auch eine Verantwortung der Medien. Verzerrende Mediendarstellungen solcher Ereignisse, beispielsweise auch in türkischen Zeitungen, dienen nicht der Integration; sie fördern das Gegenteil. Jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen, der Staat alleine kann es nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen will ich im Hinblick auf die viel diskutierte, vielleicht auch ein bisschen missverständliche Rede von Premierminister Erdogan eine Bemerkung machen; Wahlkampfreden haben es gelegentlich an sich, dass sie im politischen Streit ein bisschen aufgeladen sind.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das ist bei uns ja ganz anders!)

– Ich sagte ja gerade:, ?Hängt es ein bisschen tiefer?.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er hat auch ein paar gute Sachen gesagt!)

– Sage ich doch. Ich habe nichts Gegenteiliges gesagt.

Ich wollte nur eines dazu sagen: In dieser Rede und der Debatte dazu ist klargeworden, dass es wichtig ist, sich dazu zu bekennen, dass wir den Menschen nicht auf Dauer die Entscheidung ersparen können, ob sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten oder eine neue beantragen wollen. Das ist für Zuwanderer, die auf Dauer zuwandern, eine schwere Entscheidung. Sie fällt Menschen niemals leicht; aber sie kann ihnen nicht erspart werden. Wenn man die Entscheidung verweigert, dann erfüllt man nicht die Grundvoraussetzung, die notwendig ist, damit Integration, Anpassung und Heimischwerden in der neuen Heimat gelingen.

Es war daher richtig, dass wir die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit verhindert haben und jetzt ‑ das habe ich mit der türkischen Regierung verabredet ‑ mit der türkischen Regierung zusammenarbeiten, damit Probleme im Alltag und im konkreten Verwaltungsvollzug bei der Umsetzung der Optionslösung verhindert werden können.

Ich will in aller Kürze noch eine Bemerkung zu einem weiteren Thema machen. Ein spezieller Aspekt von Migration und Integration ist die Tatsache, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist. Dem tragen wir mit der Islamkonferenz Rechnung, in deren Rahmen wir versuchen, die Thematik aufzuarbeiten. Darüber haben wir vielfältig diskutiert und werden es weiter tun müssen. Ich finde, dass wir mit dem Prozess, den wir durch diesen Dialog zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie der vielfältigen pluralen Gemeinschaft von Muslimen in unserem Lande auf den Weg gebracht haben, insgesamt gut vorangekommen sind.

Das wird im Übrigen insbesondere durch den Streit, der dort vielfältig stattfindet, sichtbar. Denn Streit und plurale Debatten sind Voraussetzung für offene demokratische Prozesse. Deswegen stört mich dieser Streit nicht. Ich sehe es vielmehr als einen Fortschritt, dass die Vielfalt von muslimischem Leben in unserem Lande Muslimen wie der Mehrheitsgesellschaft durch diese vielfältigen Debatten sichtbar wird. Auch wenn wir noch nicht zu einem endgültigen Ergebnis gekommen sind, weiß ich: Das ist genau der richtige Weg, damit Integration gelingt.

Im Übrigen haben wir eine Reihe von wichtigen Vereinbarungen zustande gebracht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht im Sinne von Art. 7 des Grundgesetzes, wenn er denn gewünscht wird, wurden in der Partnerschaft geschaffen. Wir haben gemeinsame Erklärungen über Grundrechte, Grundwerte und Grundverständnisse unserer Verfassung mit allen Vertretern in der Islamkonferenz verfasst; unter anderem auch dazu, dass islamistische Bestrebungen, das heißt, der Missbrauch der Religion zu Zwecken gewalttätiger Auseinandersetzungen, zu bekämpfen ist. Wir sind also insgesamt auf einem guten Weg vorangekommen.

Ich will eine letzte Bemerkung machen, weil auch dies in den Zusammenhang von Migration und Integration gehört. In einem Europa der offenen Grenzen können wir Migrationspolitik nicht mehr alleine national steuern. Deswegen brauchen wir eine gemeinsame europäische Politik zur Bekämpfung illegaler Migration. Wir haben gemeinsame Außengrenzen, wir brauchen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Wir bleiben dabei, dass die Frage der Steuerung legaler Migration in den Arbeitsmarkt Sache der Mitgliedstaaten bleibt, die die Kompetenz für den Arbeitsmarkt haben. Natürlich gibt es in der Partnerschaft mit Herkunfts- und Transitstaaten, die man braucht, um die Schleuserkriminalität zu bekämpfen, auch Verbindungen zwischen der Steuerung legaler und der Bekämpfung illegaler Migration. Dabei müssen wir auch die Interessen der Dritten Welt, der Herkunftsländer bedenken. Das nennt man dann strukturierte Migration. Und wenn wir dies tun, sehen wir auch den Zusammenhang zwischen Migration und globaler Verantwortung. Wenn wir eine solche Gesamtkonzeption der Migrationspolitik verwirklichen, dann werden wir unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Weitere Informationen / Hinweise zum Migrationsbericht:
Der Migrationsbericht wird jährlich auf Wunsch des Bundestages vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erstellt. Er informiert umfassend über das Migrationsgeschehen in Deutschland – über Ein- und Abwanderungen von Ausländern und Deutschen, die Herkunft der Migranten, illegale Migration nach Deutschland sowie die Zahl der Asylsuchenden. Der jetzt vorliegende Migrationsbericht 2006 wurde im Dezember 2007 von der Bundesregierung verabschiedet.

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