Zwei Jahrzehnte Politik für Aussiedler und nationale Minderheiten



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Fachtagung ?Zwei Jahrzehnte Politik für Aussiedler und nationale Minderheiten?
in Berlin

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Am 28. September wird es 20 Jahre her sein, dass das Bundeskabinett den damaligen Parlamentarischen Staatssekretär beim BMI, Dr. Horst Waffenschmidt, zum ersten Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung ernannte. Das war im September 1988, einem Zeitpunkt, zu dem sich wohl kaum jemand vorstellen konnte, dass reichlich ein Jahr später die Berliner Mauer fallen würde und wir im Jahr darauf die Wiedererlangung der deutschen Einheit feiern könnten.

Die Schaffung des Amtes des Aussiedlerbeauftragten erfolgte also an der Schwelle tief greifender weltpolitischer Veränderungen. Die Berufung von Dr. Horst Waffenschmidt war eine Reaktion auf den beginnenden politischen Wandel in den ehemaligen Ostblockländern. Seit 1987 hatte die UdSSR die Zahl der Ausreisegenehmigungen für Bürger deutscher Nationalität stark erhöht. Ausreiseerleichterungen gab es auch in Polen, in Rumänien und in der Tschechoslowakei. Allein die erhöhten Aufnahmezahlen signalisierten 1988 einen Handlungsbedarf, der sich nachfolgend noch verstärken sollte, im Jahr 1990 erreichte die Aussiedleraufnahme mit fast 400.000 Zuzügen ihren absoluten Höhepunkt.

Mit den politischen Veränderungen im Osten erweiterten sich für die Bundesrepublik Deutschland auch die Hilfsmöglichkeiten für die dort lebenden Deutschen. Mussten vor 1990 humanitäre Unterstützungsleistungen wie Lebensmittelpakete, Medikamente oder Wertgutscheine für Devisenläden in einem komplizierten Verfahren und sehr diskret über karitative Verbände an die bedürftigen Adressaten geleitet werden, so öffneten sich mit dem Fall des eisernen Vorhanges neue Spielräume für eine unmittelbare Hilfenpolitik.

Welche Konsequenzen waren aus diesen Entwicklungen zu ziehen? Die Bundesregierung hatte letztlich zu entscheiden, ob sie sich auch weiterhin zu ihrer besonderen Verantwortung für die Deutschen in den Ländern Mittelosteuropas und der Sowjetunion bekennt oder ob sie die Veränderungen in den Staaten des damaligen Ostblocks nicht zum Anlass nimmt, sich aus diesem Aufgabengebiet, das ja mit den besonderen Verpflichtungen aus Artikel 116 GG im Zusammenhang stand, unter Hinweis auf die allgemeinen weltpolitischen Veränderungen zurückzuziehen. Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die diesen Rückzug forderten. Die besondere Hilfsbereitschaft für die Deutschen in den Ländern Osteuropas war zwar grundgesetzlich geboten, sie blieb Teil der Aufarbeitung der Folgen des zweiten Weltkrieges und damit auch eine moralische Verpflichtung, dessen ungeachtet war sie politisch nicht unumstritten. Politiker, die damals diese nationale Solidarität als ?Deutschtümelei? diffamierten, sitzen bekanntlich heute noch (bzw. wieder) im Deutschen Bundestag.

Es war gut, dass wir ihren Ratschlägen nicht gefolgt sind. Mit der Berufung des Aussiedlerbeauftragten hat sich die Bundesregierung eindeutig und nachhaltig zur Solidarität mit den Deutschen im Osten bekannt, die im Ergebnis der Politik des nationalsozialistischen Deutschlands wegen ihrer Volkszugehörigkeit ein schweres Kriegsfolgenschicksal zu erleiden hatten. Sie hat mit Dr. Horst Waffenschmidt einen Mann berufen, der mit seiner Person, mit seinem Denken, mit seiner Tätigkeit dieser Solidarität in unnachahmlicher Weise zur Geltung verhalf.

Die Konferenz sollte deshalb auch Anlass sein, dieses viel zu früh verstorbenen Mannes zu gedenken. Er hat das Amt des Aussiedlerbeauftragten von Beginn an geprägt und für die Aussiedlerpolitik Maßstäbe gesetzt, die bis in unsere Tage Gültigkeit behalten haben.

Er hat mit seiner Arbeit ein Erbe geschaffen, dem sich seine Amtsnachfolger verpflichtet fühlten und dessen zukünftige Nutzung und Entwicklung Beratungsgegenstand dieser Fachkonferenz sein soll. Ich glaube es wäre nicht im Sinne von Horst Waffenschmidt, wenn wir hier zu seinen Ehren eine Gedächtnisveranstaltung durchführten. Wir hoffen, dass es aber ganz in seinem Sinne wäre, wenn wir diese Zusammenkunft nutzen, um über die angemessene Fortsetzung der von ihm begonnenen Arbeit zu beraten. Die Aussiedlerpolitik hat in den zurückliegenden Jahren Veränderungen und Ergänzungen erfahren.

Seit 2002 haben die Dänen, die Friesen, die Sorben und die deutschen Sinti und Roma im ?Beauftragten für Aussiedlerfrage und nationale Minderheiten? einen Ansprechpartner auf Bundesebene. Ich begrüße Jochen Welt, den zweiten Aussiedlerbeauftragten, in dessen Amtszeit der Aufgabenbereich durch Einbeziehung der vier nationalen Minderheiten in Deutschland diese besondere Erweiterung erfahren hat.

Damit wurde die Hilfenpolitik, die bisher vor allem als Beitrag zur Stärkung des Bleibewillens in den Herkunftsgebieten gesehen wurde, Teil einer Politik, die der Förderung nationaler Minderheiten verpflichtet ist.

Ich begrüße die anwesenden Vertreter dieser vier Minderheiten in Deutschland und mit dem Generalsekretär der FUEV, den Vertreter der Nichtregierungsorganisation, die sich in Europa dem Schutz und der Förderung autochthoner Minderheiten widmet.

Nach amtlicher Statistik wurden in den zwei Jahrzehnten nach 1988 ca. 3 Millionen Aussiedler, Spätaussiedler und ihre Angehörige in Deutschland aufgenommen. Wir gehen außerdem von etwa 1,4 Millionen Angehörigen der deutschen Minderheiten aus, die in den Herkunftsgebieten der MOE- und GUS-Länder leben.1

Ich begrüße sowohl die Vertreter der Landsmannschaften und Aussiedlerorganisationen wie auch die Vertreter der Organisationen der Deutschen Minderheiten, die von Sibirien, Zentralasien, Dänemark, Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien hierher gekommen sind. Einige von Ihnen haben tausende Kilometer Fahrtstrecke zurückgelegt um hier dabei zu sein. Dies unterstreicht wie wichtig Ihnen der Anlass unserer Zusammenkunft und der Zweck dieser Tagung ist, seien Sie herzlich willkommen.

Für unsere Hilfenpolitik war das gute Einvernehmen mit den Regierungen der Titularnationen immer wichtige Voraussetzung. Es freut mich deshalb, dass ich Vertreter des russischen Ministeriums für Regionalentwicklung begrüßen kann. Die deutsch- russische Regierungskommission für Fragen der Russlanddeutschen ist die am längsten tätige gemischte Regierungskommission unserer Staaten überhaupt – seien sie herzlich willkommen. Ebenso begrüße ich anwesende Vertreter der Botschaften der Titularnationen und offizielle Regierungsvertreter dieser Staaten.

Wir dürfen es wohl als besondere Unterstützung unseres Anliegens betrachten, dass sich namhafte und erfahrene Repräsentanten der Kirchen der Herkunftsgebiete an unserer Tagung aktiv beteiligen, ich begrüße stellvertretend Erzbischof Nossol aus Oberschlesien und Frau Pastorin Dörr aus Siebenbürgen.

Einen besonderen Gruß möchte ich an die 30 Teilnehmer der Jugend deutscher Minderheiten richten, die auf dieser Tagung die Ergebnisse ihres gemeinsamen Workshops (unterstützt vom IfA) ?Herausforderungen und Auftrag für die junge Generation ? Die Jugend als künftige Identitätsträger? präsentieren werden.

Die Frage, ob es in 20 Jahren noch lebendige deutsche Minderheiten in den Herkunftsgebieten gibt, die aktiv am Aufbau ihrer Länder, aktiv an der Gestaltung des vereinten Europa mitwirken, entscheidet die heutige deutsche Jugend. Deshalb ist uns ihre Mitwirkung und ihr Beitrag so wichtig.

Aufnahme und Integration der Aussiedler in Deutschland einerseits, Hilfe und Unterstützung für die deutschen Minderheiten in den Herkunftsgebieten andererseits, das waren stets zwei Seiten der gleichen Medaille, wenn es darum geht, Solidarität mit den Deutschen zu üben, die in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas sowie der ehemaligen Sowjetunion ein schweres Kriegsfolgenschicksal zu tragen hatten. Deshalb freut es mich, dass die Konferenz beide Anliegen, Aussiedleraufnahme und Hilfenpolitik, gemeinsam behandelt und dass Vertreter von Landsmannschaften wie Minderheitenorganisationen hier nicht nur gemeinsam teilnehmen sondern auch in Dialog treten können.

Die Arbeit zur Unterstützung der deutschen Minderheiten in den Herkunftsgebieten wäre ohne die Mittlerorganisationen nicht zu leisten gewesen. Ich darf deshalb stellvertretend für die dabei Engagierten die Teilnehmer der GTZ begrüßen.

Die Integration von 3 Millionen Aussiedlern innerhalb von nur 20 Jahren bedeutet allein mit Blick auf die Zahl der aufgenommenen neuen deutschen Staatsbürger eine beachtliche Leistung. 3 Millionen, das ist die Bevölkerungszahl eines nicht ganz kleinen Bundeslandes also mehr Menschen als etwa in Thüringen oder in Brandenburg leben. Die Aufnahme und bisherige Integration dieser Deutschen stellt damit eine Leistung dar, für die viele Beteiligte Dank verdienen.

Ich begrüße deshalb die anwesenden Vertreter von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Organisationen, die sich der Integrationsaufgabe gewidmet haben, nicht zu vergessen unsere nachgeordneten Einrichtungen BVA und BAMF mit ihren Präsidenten.

Wenn wir hier zusammenkommen, dann nicht nur um uns der bisherigen Integrationserfolge zu erfreuen, sondern auch um uns der offenen Fragen zu widmen, die auf diesem Weg geblieben sind.

20 Jahre Aussiedlerbeauftragter, wir begehen gemeinsam eine Jubiläumsveranstaltung. Jubiläen sind ein Anlass vergangene Entwicklungen zu bilanzieren und rückblickend in das allgemeine Geschehen einzuordnen.

Diese Konferenz soll aber vor allem auch den Blick in die Zukunft richten. Die Verhältnisse haben sich in den vergangenen 20 Jahren erheblich verändert. Den 397.000 Aussiedleraufnahmen des Jahres 1990 stehen 5.700 im letzten Jahr gegenüber. Die Fragen der Aussiedlerintegration sind damit jedoch noch nicht erledigt. Die kulturellen Erfahrungen, die die Angehörigen deutscher Volksgruppen, die als Aussiedler zu uns kamen, in ihren Herkunftsgebieten erworben haben, sind Bestandteil des gemeinsamen Erbes deutscher Kultur. Gerade weil sie sich im engen Kontakt mit den Völkern Osteuropas aber auch Sibiriens und Zentralasiens entwickelt haben, tragen sie besondere Potentiale der Verständigung, die wir nutzen können, um die zivilgesellschaftlichen Brücken von Deutschland in die Herkunftsgebiete der Aussiedler zu befestigen. Integration von Aussiedlern bedeutet deshalb auch Bewahrung ihrer besonderen Prägungen und Erfahrungen, die sie als Deutsche bei der Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren mitgebracht haben. Integration bedeutet gleichzeitig, seinen Platz im heutigen Deutschland finden. Hier haben wir noch längst nicht alle Aufgaben befriedigend gelöst. Ich erwähne die Defizite der beruflichen Integration unserer Spätaussiedler, die teilweise auf sprachliche Defizite vor allem aber auf Probleme bei der Anerkennung sowjetischer Bildungsabschlüsse zurückgehen.

Hier hat es in der Vergangenheit Versäumnisse gegeben, die wir überwinden wollen. Ich denke aber auch an bestehende humanitäre Probleme durch Familientrennungen, die in der Anwendung unserer jüngeren vertriebenenrechtlichen Regelungen entstanden sind. Es wird nicht einfach sein, hier angemessene Lösungen zu finden, aber wir sollten aufbauend auf den Ergebnissen dieser Konferenz nach Lösungen suchen.

Etwa 2 Millionen Deutsche leben als Minderheit in den Herkunftsgebieten. Wir haben auch weiterhin eine besondere Verpflichtung gegenüber denen, die Trudarmee, Deportation und Zwangsarbeit erleben mussten, oder wegen ihrer Volkszugehörigkeit besonderer Willkür ausgesetzt waren. Sie haben für die Folgen der Politik des nationalsozialistischen Deutschlands besonders leiden müssen und haben deshalb auch weiterhin Anspruch auf unsere Solidarität. Wie aber soll diese Solidarität zukünftig angemessen wahrgenommen werden, wie pflegen wir die Verbindungen zu den nachwachsenden Generationen der deutschen Volksgruppen?

Die Herkunftsgebiete Mittelosteuropas sind Mitgliedstaaten der Europäischen Union und erhalten aus Brüssel Strukturfondmittel. Russland und Kasachstan, zwei weitere wichtige Herkunftsländer, sind potente Wirtschaftsmächte und auch in den meisten anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen deutsche Minderheiten leben, haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nachhaltig konsolidiert.

Hilfenpolitik kann also nicht so fortgeschrieben werden, wie sie vor 20 Jahren begann: als Wirtschafts- und Infrastrukturhilfe zur Stärkung des Bleibewillens. Sie soll aber keinesfalls ersatzlos aufgekündigt werden. Sie muss sich vielmehr stärker als bisher den Fragen der Erhaltung der kulturellen Identität stellen. Diese Konferenz ist keine Abschlussveranstaltung sondern soll nach sinnvoller Fortführung fragen. Wir gehen davon aus, dass Minderheitenpolitik in modernen und freiheitlich verfassten Ländern einen festen Platz hat, sowohl in der Europäischen Union als auch in Russland, Kasachstan und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die sich ja traditionell als Vielvölkerstaaten verstehen. Wenn das so ist, dann haben wir eine bleibende Verpflichtung sowohl für die vier nationalen Minderheiten in Deutschland als auch für die weitere Unterstützung der deutschen Minderheiten in den Herkunftsgebieten der Aussiedler. In dieser in die Zukunft weisenden Verpflichtung muss die erfolgreiche Arbeit der letzten 20 Jahre eine angemessene Fortsetzung finden.

Wie das erfolgen kann dafür gibt es Beispiele: Die Situation der deutsch-dänischen Grenzlandminderheiten, denen sich Deutschland und Dänemark seit den Bonn- Kopenhagener-Erklärungen von 1955 gemeinsam verpflichtet fühlen, zeigen Perspektiven und Vorteile einer auf Ausgleich und Verständigung ausgerichteten Minderheitenpolitik.

Das diesjährige Jubiläum soll deshalb Anlass sein, gemeinsam mit den Betroffenen und Fachleuten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft über die künftigen Schwerpunkte zu diskutieren und die Arbeit konzeptionell weiterzuentwickeln.

Unser gegenwärtiger Beauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten hat Thesen formuliert, die zur Diskussion anregen sollen. Sie haben sich mit eigenen Beiträgen auf die Debatte vorbereitet.

Ich wünsche Ihnen eine fruchtbare Beratung und bin jetzt schon gespannt auf ihre Ergebnisse.

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1 Die ursprünglich an dieser Stelle veröffentlichte Zahl von 2 Millionen Angehörigen der deutschen Minderheit in den genannten Gebieten beruhte auf älteren Schätzungen. Neuere Schätzungen gehen von 1,4 Millionen Personen aus.