„Wir müssen risikobehaftete Zuspitzungen vermeiden“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Handelsblatt

Wolfgang Schäuble (CDU) warnt vor dem Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro[Glossar]. Die EU habe die Fantasie noch nicht ausgeschöpft, wie das Krisenland unterstützt werden kann. Mit dem Bundesfinanzminister sprachen Daniel Goffart, Donata Riedel und Gabor Steingart.

Handelsblatt: Herr Bundesfinanzminister, seit Beginn der Euro-Krise kommen Sie und die anderen Finanzminister aus dem Retten nicht mehr heraus. Nur hat es den Anschein, dass im Falle Griechenlands die Hilfe nicht hilft. Was läuft schief?

Schäuble: Das Helfen hilft. Mit den Programmen wird die Basis für die Gesundung gelegt. Jetzt kommt es entscheidend darauf an, dass Griechenland das Programm und das, was es im März angekündigt hat, auch umsetzt – also auch die Privatisierungen im Umfang von 50 Milliarden Euro.

Handelsblatt: Wie bewerten Sie die Kapitalflucht aus Griechenland? Die Banken dort haben mehr als 40 Milliarden Euro seit Anbruch der Krise an Spareinlagen verloren.

Schäuble: Es bestreitet ja niemand, dass wir es mit einer Krise zu tun haben. Die Krise nährt die Krise. Deshalb hat der griechische Finanzminister keine Alternative, als durch ein Anpassungsprogramm das Vertrauen der Bürger und der Investoren zurückzugewinnen.

Handelsblatt: Die aktuellen Hilfen reichen nur bis Mitte 2012. Der neue Hilfsmechanismus funktioniert erst ab Mitte 2013. Was passiert in der Zwischenzeit?

Schäuble: Wir haben einen bereits funktionierenden temporären Rettungsschirm, der ab Sommer 2013 durch das dauerhafte Instrument, den ESM, abgelöst wird. Dazwischen gibt es keine Lücke.

Handelsblatt: Der Kapitalmarkt ist angesichts von Zinssätzen zwischen 16 und 24 Prozent für die Griechen derzeit gesperrt.

Schäuble: Noch mal: Das Programm, in dem wir 2010 beschlossen haben, Griechenland mit insgesamt 110 Milliarden Euro unter die Arme zu greifen, läuft bis 2013. Weiterhin haben die europäischen Regierungschefs schon im März die Laufzeiten der Hilfskredite verlängert, angepasst an die irischen Laufzeiten. Und die griechische Regierung hat ein Privatisierungsprogramm beschlossen, um mit den Einnahmen Schulden zu tilgen, damit sie später weniger Zinsen zahlen muss. Zurzeit sieht es so aus, als ob die Griechen mehr Zeit brauchen könnten. Wenn der Bericht der Troika, die zurzeit in Griechenland den Ablauf des Programms bewertet, zum Schluss kommt, dass auch das noch nicht ausreicht, müssen wir eine Lösung finden. Nur dann kann die nächste Tranche der Hilfen ausbezahlt werden.

Handelsblatt: Als wir im eigenen Land ein vergleichbares Problem mit der DDR hatten, da haben wir es ganz anders gelöst. Wir haben nicht Löhne und Staatsausgaben gekürzt, sondern im Gegenteil die Löhne angeglichen, Hilfsprogramme gestartet und alles getan, umWirtschaftswachstum [Glossar] zu erzeugen: Aufbau Ost hieß das Motto. Wo bleibt der Aufbau Griechenlands?

Schäuble: Die Lage damals war eine andere. Die DDR-Wirtschaft existierte unter den Bedingungen einer geschlossenen Staatswirtschaft, und als sie urplötzlich dem offenen Weltmarkt und Wettbewerb ausgesetzt war, war sie schlagartig von einem Tag auf den anderen nicht wettbewerbsfähig. Das ist eine völlig andere Lage als jetzt in Griechenland.

Handelsblatt: Griechenland exportiert weniger als die DDR…

Schäuble: … aber Griechenland ist seit langem in die Weltwirtschaft integriert. Griechenland hat seit 2001 den Euro. Die Währungsunion übt auf alle Mitglieder den Zwang aus, wettbewerbsfähig zu werden. Spanien zum Beispiel hat dies jetzt auf sich genommen und schwierige Reformen auch des Arbeitsmarkts [Glossar] auf den Weg gebracht. Das hätten viele gar nicht erwartet, zumal bei einer Regierung unter Führung der sozialistischen Partei. Sie hat es aber gemacht, und Spanien wird heute an den Finanzmärkten [Glossar] wesentlich besser beurteilt als vor einem Jahr. Portugal ist jetzt auf dem Weg. Und Griechenland muss mehr tun, um wettbewerbsfähig zu werden.

Handelsblatt: Den Vorschlag einer weichen Umschuldung, also einer weiteren Laufzeitverlängerung, hat die Europäische Zentralbank abgelehnt. Hätten Sie sich da mehr Entgegenkommen gewünscht?

Schäuble: Wir sind immer ziemlich gut damit gefahren, die Unabhängigkeit der Notenbank[Glossar] zu respektieren.

Handelsblatt: Was für den Politiker seine Wähler, sind für uns Zeitungsmacher die Leserinnen und Leser. Die haben wir gebeten, uns Fragen für dieses Interview mit auf den Weg zu geben. Eine der am häufigsten gestellten Fragen lautet: Warum wäre es so schlimm, jetzt schon eine Umschuldung zu vollziehen, wenn ohnehin alle Marktteilnehmer erwarten, dass sie am Ende kommen wird? Warum nicht ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende?

Schäuble: Ein Umschuldungsszenario wird von vielen mit hohen Risiken bewertet. Es könnte dazu kommen, dass sofort alle Kredite fällig gestellt würden – mit dementsprechenden Konsequenzen für die griechische Zahlungsfähigkeit. Zusätzlich sorgt die Tatsache für Unsicherheit, dass es keine Erfahrung damit gibt, was passiert, wenn ein Land innerhalb einer Währungsunion zahlungsunfähig wird. Das ist eine völlig andere Konstellation, als wir sie zum Beispiel Ende der 1990er-Jahre in Argentinien und anderen Ländern hatten.

Handelsblatt: Eine weitere, wichtige Frage unserer Leser zielt genau darauf: Wäre die Einführung der Drachme nicht besser für Griechenland? Natürlich mit einem Rückkehrplan zum Euro nach erfolgter Sanierung der dortigen Staatsfinanzen.

Schäuble: Das Ausscheiden eines Landes aus dem Euro kommt mit hohen systemischen Risiken daher und hätte heftige Turbulenzen an den Finanzmärkten zur Folge – wie heftig und mit welchen Konsequenzen, bliebe abzuwarten – es fehlen wie gesagt die Erfahrungswerte.

Handelsblatt: Was genau befürchten Sie?

Schäuble: Sie hatten gerade selbst das Thema Kapitalflucht angesprochen. Die Griechen müssten sofort Kapitalverkehrskontrollen einführen, und sie müssten aus dem Stand eine eigene Währung schaffen, was nicht einfach ist. Die griechischen Schulden würden in Relation dramatisch wachsen, denn die Gläubiger würden ja vermutlich nicht in der neuen Währung bezahlt werden wollen, die aber wiederum deutlich gegenüber dem Euro abgewertet wäre. Deswegen ist es des Schweißes der Edlen wert, genau diese Zuspitzung zu vermeiden. Das sind alles Unwägbarkeiten, die es bei allen Überlegungen zu bedenken gibt. Selbst bedeutende Ökonomen, mit denen ich gesprochen habe, konnten mir nicht erklären, wie ein zeitweiliger Austritt aus einer Währungsunion praktisch ablaufen soll.

Handelsblatt: Aber in der ökonomischen Welt – an der Spitze marschiert Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn – finden Sie fast keinen, der nicht sagt, die Umschuldung ist das, was ohnehin am Ende steht. Also ein Teilverzicht der Gläubigerbanken und Gläubigerversicherungen.

Schäuble: Ich sehe bei den Ökonomen aber keine Antwort, wie das gehen könnte ohne dramatische Zuspitzung. Es ist Aufgabe der Politik, krisenhafte Zuspitzungen zu vermeiden und alle Möglichkeiten auszuloten. Das ist unsere Verantwortung.

Handelsblatt: Die Politik verliert doch eher an Glaubwürdigkeit, wenn alle erwarten, dass es zur Umschuldung kommt und Sie das immer wieder abstreiten. Wenn diese Wahrheit endlich Wirklichkeit ist, könnte das nicht auch beruhigend auf die Märkte wirken?

Schäuble: Nein. Wenn Griechenland zahlungsunfähig würde, sagen manche, die sich mit dem Thema beschäftigen, könnten die Folgen katastrophaler werden als nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Ob dies so sein wird, weiß man nicht. Dass die systemischen Risiken in diesem Fall auf jeden Fall sehr hoch wären, bezweifelt aber auch bei den Ökonomen niemand ernsthaft.

Handelsblatt: Aber was ist mit der Gerechtigkeit? Es ist doch nicht einzusehen, dass die Steuerzahler haften für Risiken, die sie nie eingegangen sind, während die privaten Banken mehrheitlich wieder prächtig verdienen.

Schäuble: Gerechtigkeit ist sehr wichtig. Aber es geht nun wirklich nicht darum, den Banken einen Gefallen zu tun. Wir alle haben ein überragendes Interesse an einem funktionierenden Finanzsystem. Eine Volkswirtschaft, bei der die Versorgung mit Geld nicht funktioniert, ist ähnlich schlecht dran wie eine Gemeinschaft, in der Strom und Wasser ausfallen. Die Deutschen haben von der Währungsunion die größten Vorteile, und davon hängt unser Wohlstand ab.

Handelsblatt: Die Deutsche Bank bricht bei einer Staatspleite in Athen nicht zusammen …

Schäuble: Ich will jetzt nicht die Situation einzelner Banken bewerten. Bei Lehman Brothers haben wir gesehen, wie in Sekundenschnelle die Ansteckung rund um den Globus stattgefunden hat, weil die Verflechtung so enorm ist. Deswegen müssen wir im Finanzsektor dazu kommen, dass wir die systemischen Risiken stärker unter Kontrolle bekommen. Dafür haben wir jetzt in Deutschland das Bankenrestrukturierungsgesetz.

Handelsblatt: Wenn also eine Umschuldung Griechenlands alles nur noch schlimmer machen würde, brauchte Griechenland dann nicht zumindest eine Art Marshallplan, um seine Krise bewältigen zu können?

Schäuble: Der Begriff Marshallplan ist besetzt mit der Situation des total zerstörten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb würde ich ihn hier nicht verwenden. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Programm für Griechenland nicht nur Sparen vorschreibt, sondern auch Strukturreformen. Wir wollen ja in Griechenland wie auch in den anderen Ländern Wachstumskräfte wecken. Richtig ist aber, dass wir in der EU noch nicht alle Fantasie ausgeschöpft haben, wie wir Griechenland unterstützen können.

Handelsblatt: An welche Unterstützung denken Sie?

Schäuble: Da müssen wir in der EU noch kreativer werden. Sie haben ja recht: Allein mit finanzpolitischen Maßnahmen sind Griechenlands Probleme nicht zu lösen – da braucht es eine mittel- und langfristige Wachstumsperspektive. Ein Mosaikstein könnte etwa in der Energiepolitik Griechenlands hin zur stärkeren Nutzung der Solarenergie liegen, und dann als EU in den Netzausbau investieren.

Handelsblatt: Sie wollen ab Mitte 2013 mit dem ESM einen permanenten Rettungsschirm schaffen. Wie halten Sie es dabei mit dem Budgetrecht des Parlaments? Es scheint Ihnen nicht so wichtig zu sein, dass die Abgeordneten den Geldabfluss kontrollieren können?

Schäuble: Nein, das ist ein völlig falscher Eindruck. Das Budgetrecht ist das älteste und wichtigste Recht in allen Demokratien. Es gibt überhaupt gar keine Diskussion darüber, dass über jeden Euro, den die Bundesrepublik zur Verfügung stellt, das Parlament entscheidet. Aber die Sache ist kompliziert: Wir schaffen internationale Institutionen und stellen ihnen durch Beschluss des nationalen Haushaltsgesetzgebers Geld zur Verfügung. Die entscheidende Frage ist nun: Muss dann jede weitere Entscheidung dieser internationalen Finanzinstitution von der Zustimmung der jeweiligen Parlamente in allen Mitgliedsländern abhängig gemacht werden?

Handelsblatt: Warum nicht?

Schäuble: Stellen Sie sich das etwa bei der Weltbank [Glossar] vor oder beim IWF. Wenn alle 187 Parlamente der Mitgliedstaaten immer bei jeder Einzelaktion zustimmen müssten, dann wären diese Organisationen praktisch handlungsunfähig. Ähnlich ist es beim ESM. Deshalb hat der Bundesrechnungshof auch empfohlen, das so zu regeln wie beim derzeitigen Rettungsfonds EFSF.

Handelsblatt: Es gibt in der FDP, aber auch in Ihrer eigenen Fraktion gehörige Skepsis.

Schäuble: Das ist ja auch in Ordnung, denn ein übermäßiges oder gar blindes Vertrauen in Regierungen ist noch nie gut gewesen für die Menschheit. Deshalb müssen wir das Parlament überzeugen. Und ich gehe davon aus, dass uns das auch gelingen wird.

Handelsblatt: Aber wenn Sie die Kanzlermehrheit nicht erreichen, steht die Regierung in den Augen der Bürger wackelig da.

Schäuble: Deshalb wird es dazu auch nicht kommen.

Handelsblatt: Herr Minister, wir bedanken uns für dieses Interview.

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