„Wir fahren auf Sicht, dazu muss man sich offen bekennen“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Welt am Sonntag

Welt am Sonntag: Herr Schäuble, was fällt Ihnen zum Juliusturm des Finanzministers Fritz Schäffer ein?

Wolfgang Schäuble: Damit sind die vollen Staatskassen in den frühen 50er-Jahren gemeint. Da kann ein Finanzminister heute nur nostalgisch werden. Die Verhältnisse sind aber nicht mehr vergleichbar. Wir müssen mit exorbitant hohen Schulden fertig werden, wie wir sie in der Geschichte der Republik bislang nicht kannten. Deshalb bringt uns Nostalgie nicht weiter. Der Juliusturm kann uns nur insofern als Mahnung dienen, als wir die Schulden in einem wirtschaftlich erträglichen Maße zurückführen, sobald wir wieder in geordneten Verhältnissen arbeiten können und die Wirtschafts- und Finanzkrise überwunden ist. Aber noch sind wir mitten drin.

Ein ausgeglichener Haushalt ist also auf absehbare Zeit eine Utopie?

Schäuble: In dieser Legislatur natürlich. Es ist ehrgeizig genug, die Schuldenbremse des Grundgesetzes einzuhalten.

Zumal Sie im Koalitionsvertrag 24 Milliarden Euro Steuersenkungen pro Jahr versprechen …

Schäuble: Zunächst einmal ist es das Allerwichtigste, dass wir gut durch diese schwere und nie da gewesene Wirtschaftskrise kommen. Die bisherige Bundesregierung hat das bislang recht erfolgreich bewerkstelligt, die Auswirkungen waren lange nicht so schlimm, wie viele das befürchtet haben. Aber niemand kann derzeit sagen, dass die Krise schon hinter uns liegt. Deshalb müssen wir alles tun, um den Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums zu stoppen und so schnell wie möglich wieder aufzuholen. Dafür braucht es starke Impulse, wie wir sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben.

Dennoch müssen Ihnen die Steuersenkungen doch Bauchschmerzen bereiten. Sie haben in den vergangenen Monaten oft davor gewarnt.

Schäuble: Natürlich sind Koalitionsvereinbarungen immer Ergebnisse des Zusammenfügens verschiedener Standpunkte. Wir haben ja tatsächlich um diese Frage und das richtige Maß lange und hart gerungen. Aber das Ergebnis ist gut vertretbar, auch für mich. Ich unterstütze es, dass die ersten Impulse schon zu Beginn des nächsten Jahres gesetzt werden. Das ist ehrgeizig und wird strukturelle Veränderungen in anderen Bereichen umso dringlicher machen. Das ist allen Beteiligten bewusst.

Das heißt, es muss auch gespart werden. Wo?

Schäuble: Wo wir sparen, das werden wir Schritt für Schritt sehen, je nachdem, wie die wirtschaftliche Entwicklung sein wird. Es macht jedenfalls keinen Sinn, in einer Phase, wo man Konjunkturimpulse setzen muss, über Sparmaßnahmen zu reden. Das hätte einen gegenteiligen Effekt. Wann das schließlich sein wird, kann niemand sicher sagen: Wir fahren weiter aufsieht, dazu muss man sich offen bekennen.

Kann es also sein, dass die angekündigte große Steuerreform mit einem Stufentarif gar nicht kommt?

Schäuble: Wir haben im Koalitionsvertrag ein Volumen definiert, damit es keinen Zweifel gibt, wo sich der finanzpolitische Handlungsspielraum erschöpft. In diesem Rahmen werden wir versuchen, die niedrigen und mittleren Einkommen zu entlasten, um auch den Mittelstandsbauch abzuflachen und zugleich den Einstieg in einen Stufentarif zu erreichen. Dessen Befürworter sagen, er hätte den Vorteil größerer Transparenz finden Steuerzahler.

Sagen Sie das auch?

Schäuble: Ich bin da nicht so ganz sicher. Aber international vertreten die meisten Wissenschaftler diese Position, insofern ist das schon eine vernünftige Formulierung, an der ich mitgewirkt habe und die ich deshalb auch vertreten kann.

Sie haben auch daran mitgewirkt, einen Nebenhaushalt zu schaffen, in dem Defizite aus der Arbeitslosenund Krankenversicherung geparkt werden. Ist das seriös?

Schäuble: Das ist kein Nebenhaushalt, weil es sich nicht um Darlehen handelt, sondern um Zuschüsse. Die Defizite in der Arbeitslosenund Krankenversicherung sind genauso wie die der Banken durch die Krise entstanden. Deshalb spannen wir einen Schutzschirm für die Arbeitnehmer. Denn wir wollen diese Zuschüsse nicht den Beitragszahlern anlasten, sondern sie sollen von der Gemeinschaft der Steuerzahler getragen werden. Das ist der Sinn dieser Operation, die auch ein Zeichen sozialer Ausgewogenheit ist, weil sie verhindert, dass die Arbeitnehmerbeiträge krisenbedingt steigen.

War das Finanzministerium Ihr Wunsch? Oder hat die Kanzlerin Sie in die Pflicht genommen?

Schäuble: Ich habe keinen persönlichen Wunsch geäußert, sondern die Bundeskanzlerin hat mich gefragt, ob ich bereit wäre, das Finanzministerium zu übernehmen. Diese Frage hatte sie mir auch schon einmal vor vier Jahren gestellt. Damals ist es aus den bekannten Gründen nicht dazu gekommen. Insofern war ich von der Frage nicht so überrascht, dass ich mir nicht vorher überlegt hätte, wie ich sie beantworte. Natürlich ist die Aufgabe riesengroß. Es ist aber auch ein Ausdruck außergewöhnlichen Vertrauens, und deshalb ist es mir eine Ehre.

Ist Ihnen der Abschied aus dem Innenministerium schwer gefallen?

Schäuble: Die Arbeit dort hat mir immer große Freude bereitet. Das hätte sie auch weiterhin, weil es uns in den Koalitionsverhandlungen gelungen ist, die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der FDP zu legen – für manche war das eine Überraschung, für mich nicht.

Sie fliehen also nicht vor Ihrer FDP-Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Justizressort?

Schäuble: Überhaupt nicht. Manche haben schon geunkt, mit Frau Leutheusser und mir wäre ein neues Traumpaar gefunden. Jetzt werde ich mit meinem FDP-Kollegen Rainer Brüderle aus dem Wirtschaftsministerium ein traumhaftes Tandem bilden.

Das Gespräch führte Thorsten Jungholt

(c) Axel-Springer AG, Berlin