Trauerrede auf Klaus Kinkel. 22.03.2019



Vor gerade mal zwei Jahren war ich eingeladen, beim achtzigsten Geburtstag von Klaus Kinkel zu sprechen. Ich empfand es damals als eine Ehre und es war mir eine große Freude. Heute fällt es mir nicht leicht, das Wort zu ergreifen. Ich bin tief bewegt, aber ich spüre neben der Verpflichtung auch den inneren Wunsch, eine Persönlichkeit zu würdigen, der ich mich über viele Jahre nahe gefühlt habe.

Deutschland trauert um einen Staatsdiener im allerbesten Sinne des Wortes. Die Freien Demokraten trauern um eine Führungsfigur, der sie viel liberalen Geist und wenig Zuchtmeisterei verdanken. Ich selbst trauere um einen langjährigen Weggefährten.

Pragmatisch und verlässlich: So habe ich ihn erlebt. „Wenn es brennt, genügt es nicht, den Feuerwehrschlauch zu bezahlen, es muss auch gelöscht werden.“ So dachte Klaus Kinkel. So sprach er und so handelte er. Dabei hatte er stets hohen Respekt vor dem, was ihm anvertraut war. Klaus Kinkel zeichnete ein besonderes, fast altmodisches Bewusstsein für verantwortliches Handeln aus. Er hatte verinnerlicht, nicht sich selbst wichtig als vielmehr seine Aufgaben ernst zu nehmen, die ihm angetragenen Ämter. Diese Haltung habe ich in der Zusammenarbeit mit Klaus Kinkel besonders geschätzt. Sie ist eher selten, zumal in der Politik.

Je vertrauter wir wurden, umso mehr traten für mich die vielen Qualitäten Klaus Kinkels zutage: Seine Loyalität und seine Warmherzigkeit, seine Offenheit und seine politische Urteilskraft. Dabei glaubte er nie, selbst alles besser zu können oder besser zu wissen. So wuchs in den letzten Jahren sein Erschrecken darüber, wie gnadenlos heute in der Öffentlichkeit über alles und jeden geurteilt wird. Verurteilt. Dabei wurde auch zu seiner politisch aktiven Zeit mit Verantwortlichen hart ins Gericht gegangen. Das hat er selbst erlebt und ausgehalten. Als Spitzenbeamter, als Minister, als Parteivorsitzender.

Klaus Kinkel startete nach seiner Promotion Mitte der sechziger Jahre seine Karriere im Innenministerium, zunächst im Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz, später dann – nach einem Ausflug in die Kommunalverwaltung – im Leitungsstab des Ministers. Aus diesen Jahren resultiert das besondere Vertrauensverhältnis zu Hans-Dietrich Genscher, als Persönlicher Referent und Leiter des Ministerbüros. Kinkel begleitete Genscher auch ins Auswärtige Amt, bevor er 1979 – nach zwei Offizieren – der erste BND-Präsident ohne militärischen Hintergrund wurde. In Kinkels Amtszeit in Pullach fiel einer der größten geheimdienstlichen Erfolge der Bundesrepublik: Der Fall des Stasi-Überläufers Werner Stiller. Mehr als 50 Agenten der HVA konnten enttarnt oder mussten vom MfS zurückgezogen werden – im Kalten Krieg ein großer Coup, ohne dass der Präsident des Bundesnachrichtendienstes persönlich daraus hätte Kapital schlagen wollen.

Im Oktober 1982 kam Klaus Kinkel zurück nach Bonn. Als Staatssekretär im Justizministerium genoss er einen exzellenten Ruf. Ich habe von da an viel und gern mit ihm zusammengearbeitet. In koalitionsintern schwierigen, drängenden Gestaltungsaufgaben wie dem Asyl- und Ausländerrecht war er ein verlässlicher und vernunftgeleiteter Partner, ein geschickter Verhandler obendrein. Gegen viel Skepsis verbesserte die christlich-liberale Koalition die Rechtsstellung der für längere Zeit in Deutschland lebenden Ausländer. Die Neuregelung des Ausländergesetzes zeichnete sich nicht durch besondere sprachliche Klarheit oder bürokratische Einfachheit aus. Der eigentliche Erfolg war, dass sie überhaupt angegangen wurde. Kinkel hatte daran hohen Anteil. Bisweilen half ihm eine gewisse Unbefangenheit. So schien er fast verwundert, dass es Kritik hagelte, als er 1989 verurteilte RAF-Terroristen vom Hungerstreik abzubringen versuchte. Klaus Kinkel tat es aus humanitären Erwägungen, stets im Einklang mit seinem Rechtsverständnis und aus gesellschaftspolitischer Verantwortung. Teile der Öffentlichkeit konnten oder wollten das nicht verstehen. Auch nicht, als er drei Jahre später, nun als Justizminister, erneut das Gespräch mit verurteilten, inhaftierten Terroristen der RAF suchte. Es ging ihm dabei nicht um Versöhnung, aber um den Versuch, aus der Spirale von Terror und Gewalt herauszukommen. Und darum, das Schweigen der Täter zu brechen, um den Angehörigen der RAF-Opfer endlich Gewissheit in offenen Fragen zu geben.

Nach dem Fall der Mauer intensivierte sich unsere Zusammenarbeit noch. In dieser für unsere Nation so aufregenden Zeit spielte Klaus Kinkel eine wichtige Rolle – als politisch denkender Beamter und handfester Macher war er auf dem Weg zum Einigungsvertrag für mich als Innenminister der verlässliche Partner im Justizministerium. Er war zudem an den Verhandlungen zur Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion beteiligt und führte im Auftrag des Bundeskanzlers, der sein juristisches Urteil und seine Verlässlichkeit sehr schätzte, direkte Gespräche mit Lothar de Maizière, dem letzten und einzig frei gewählten Regierungschef der DDR. Diese so intensive Phase zählte auch für ihn zu den bleibenden Höhepunkten, persönlich wie im beruflichen Leben.

Klaus Kinkel war ein durch und durch liberaler Mensch. Seine freiheitliche Grundüberzeugung leitete ihn und sie manifestierte sich in seiner Haltung in rechtspolitischen Kernfragen. Es hier, in der Parteizentrale, zu sagen, mag vielleicht wie eine Provokation klingen: Klaus Kinkel brauchte keine Parteimitgliedschaft, um ein freiheitlich denkender Bürger zu sein. Um als Spitzenbeamter rechtsstaatliche Grundsätze zu verteidigen. Um als Politiker die Balance zwischen Persönlichkeitsschutz und Sicherheitsbedürfnis auszutarieren. Maßstab waren ihm die Grundrechte, die Achtung der Menschenwürde – nicht parteipolitische Positionen. Er wolle nicht den Eindruck erwecken, aus Karrieregründen Parteimitglied zu sein. So trat er erst nach seiner Ernennung zum Justizminister in die FDP ein. Da konnte Klaus Kinkel noch nicht ahnen, dass er kaum ein Jahr später in ein anderes Amt wechseln würde.

Meine Damen und Herren,
vier Außenminister und Vizekanzler aus den Reihen der FDP sind binnen einer Frist verstorben, die nicht einmal die Länge einer Legislaturperiode umfasst. Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Guido Westerwelle und Klaus Kinkel haben die Geschichte unseres Landes geprägt. Ihre Biographien sind in vielfacher Weise miteinander verwoben. Besonders vertrauensvoll, es wurde bereits erwähnt, war die Beziehung zwischen Hans-Dietrich Genscher und seinem Nachfolger. Das konnte jeder spüren.

Dieser Tage ist oft die Bezeichnung „politischer Ziehsohn“ zu lesen gewesen. Klaus Kinkel selbst hat das Bild immer wieder benutzt. Und doch ist es für sein Verhältnis zu Hans-Dietrich Genscher nicht ganz zutreffend: Sie haben einander ergänzt. Beide trennte ein Altersunterschied von gerade einmal neun Jahren. Der eine hatte den Zweiten Weltkrieg als Kind, der andere als Heranwachsender erlebt; den einen prägte die Jugend auf der Schwäbischen Alb, den anderen die Flucht aus der DDR in den Westen. Die Neigung zur heimatlichen Mundart war bei beiden, dem Schwaben und dem Hallenser, ausgeprägt. Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel waren trotz der unterschiedlichen Herkunft eng vertraut und verbunden: als überzeugte freie Demokraten, leidenschaftliche Europäer und „ehrliche Patrioten“ – auch das ist ein Ausdruck, den Kinkel selbst benutzte. Beide waren Protagonisten der Bonner Republik und sie legten den Grundstein dafür, dass das wiedervereinigte Deutschland innen- und außenpolitisch Kontinuität wahrte. Berlin allerdings, daran will ich gerade in der Mitte dieser Stadt erinnern, war auch für Kinkel selbstverständliche Hauptstadt. Dafür hatte er sich immer eingesetzt.

So vertraut Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel miteinander waren – der Amtswechsel 1992 verlief nicht elegant. Als Genscher nach 23 Jahren überraschend seinen Rückzug aus dem Außenamt ankündigte, war die Nachfolge offen. In der Koalition aus Union und FDP stritt man zu Beginn der neunziger Jahre über fundamentale Fragen wie das Asylrecht, die Pflege, das gesamtdeutsche Abtreibungsrecht. Das Land kämpfte mit hohen einigungsbedingten Ausgaben, knappem Wohnraum und einer stagnierenden Wirtschaft. Es war keine günstige Zeit für ein Revirement im Kabinett, für den Amtsverzicht des in Ost und West anerkannten Politikers, der trotz verbreiteter Politikverdrossenheit lange den obersten Platz auf der Beliebtheitsskala besetzte. In den Reihen der FDP gab es mehrere Kandidaten für Genschers Nachfolge. Und mehr Strippen, als sinnvollerweise in solchen Situationen zu ziehen gewesen wären. Die Händel im Vorfeld hinterließen Kränkungen. Ich hätte Klaus Kinkel, der selbst in eigener Sache kein Taktierer war, einen angenehmeren Start ins Außenamt gewünscht.

Er sei farbenblind, Linkshänder und spräche nicht Französisch: Das schrieb eine Boulevard-Zeitung über den neuen Bundesaußenminister nach dessen erster Begegnung mit seinem US-amerikanischen Kollegen. James Baker schienen diese drei vermeintlich bemerkenswerten Kennzeichen nicht irritiert zu haben. Er fasste Vertrauen zu Kinkel und bezeichnete ihn als „new friend“. Er war nicht der einzige: Klaus Kinkel knüpfte an Genschers Kontakte an und setzte in Vielem fort, was sein Vorgänger begonnen und so lange selbst vertreten hatte.

Aber er setzte auch eigene Akzente. Das musste er angesichts der veränderten Lage in Europa, angesichts ganz neuer Konflikte. In einem seiner letzten Interviews bekannte Klaus Kinkel, froh darüber zu sein, in der schwierigen aktuellen Lage keine Verantwortung mehr tragen zu müssen. Hier redete keiner der Flucht aus der Verantwortung das Wort. Im Gegenteil. Es war das ehrliche Eingeständnis eines Mannes, der die Last der Verantwortung zu einem Zeitpunkt gespürt und getragen hatte, als in Europa Krieg wieder Realität wurde. Er machte sich damals für eine Neuausrichtung der Außenpolitik stark, um Deutschland aus der Rolle des „impotenten Zwergs“ zu befreien, wie er sich ausdrückte. Das trug ihm prompt den Vorwurf ein, sich als Falke zu gebärden, obwohl doch gerade die Außenpolitik den Tauben vorbehalten sei. Kinkel erklärte, er sei Pazifist, und machte zugleich deutlich, dass sich unser Land angesichts des Jugoslawienkrieges nicht länger zurückhalten könne, ohne Schaden zu nehmen. Der konkrete Fall berührte damals das Grundsätzliche. In der verfahrenen Diskussion um die Awacs-Aufklärungsflüge, in der die FDP gegen die eigene Bundesregierung vor das Bundesverfassungsgericht zog, erfuhr Klaus Kinkel wie spannungsreich das Tragen von Verantwortung innerhalb einer Partei und für das Land sein kann.

Kinkel sah sich als Außenminister einer gründlich veränderten Weltlage gegenüber. Und anderen Verpflichtungen und Erwartungen der neuen und alten Partner in Ost und West. Das vereinigte Deutschland konnte ihnen nicht mehr ausweichen. Kinkel wich nicht aus. Er nannte die Dinge beim Namen. Das war eine seiner Stärken. In der Diplomatie ungewöhnlich, aber der Situation angemessen. Seinem Ansehen tat es keinen Abbruch. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er die FDP nur kurze Zeit führte. Der Parteivorsitz war ein Amt, das er nie angestrebt hatte.

Woraus speiste sich die Vertrauenswürdigkeit von Klaus Kinkel? Er war den Menschen zugetan, wissbegierig, gewinnend und tolerant. Und er hatte ein besonderes Gespür dafür, wie viel vom Menschen Kinkel in der Öffentlichkeit sichtbar werden sollte und durfte. Er bezeichnete sich selbst als schwäbischen Raubauz. Als Badener versteht man das. Gemeint ist die besondere Liebenswürdigkeit eines auch mal kantig erscheinenden oder polternd auftretenden Menschen. Willensstark und standfest, mit Schwächen – und mit Emotionen. Kinkel war ein hoch empfindsamer Mensch, der schwere private Schicksalsschläge ertrug, aber sich auch nicht scheute, Gefühle zu zeigen.
„Man muss mit sich ins Reine kommen“, hatte Hans-Dietrich Genscher einst gesagt. Klaus Kinkel hat viel von ihm gelernt. Und diesen Satz auf eigene Weise verinnerlicht.
Klaus Kinkel hat auch nach seinem Ausscheiden aus der Politik in seinem Engagement für unsere Gesellschaft nicht nachgelassen. Die Telekom-Stiftung ist auf seine Initiative entstanden, sie verdankt ihm weit mehr als nur den Gründungsimpuls – und noch mehr verdanken ihm die vielen jungen Menschen, die über die Bildungsarbeit der Stiftung gefördert wurden. Klaus Kinkel wird ihnen in bester Erinnerung bleiben – so wie denen, die das Glück hatten, ihn persönlich kennenzulernen, nahe zu sein.
Ihnen allen, mir persönlich, wird er schmerzlich fehlen.

Verehrte Frau Kinkel, unser Land trauert mit Ihnen und Ihrer Familie. Wir werden Klaus Kinkel ein ehrendes Andenken bewahren. Ihnen und allen Angehörigen spreche ich mein tief empfundenes Beileid aus.