„Russland hat mehr zu verlieren“



Im Interview mit dem Handelsblatt vom 27. März 2014 spricht Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble über die Auswirkungen der Krim-Krise, die bevorstehende Europawahl und die großen Herausforderungen bei der europäischen Bankenunion.

Handelsblatt: Herr Minister, Sie sind Träger des Karlspreises, der unter dem Motto „Europa als Friedenswerk“ steht. Wie besorgt sind Sie angesichts der Krim-Krise um den Frieden in Europa?

Wolfgang Schäuble: Das Vorgehen Russlands können wir nicht akzeptieren. Im 21. Jahrhundert dürfen Grenzen nicht mit militärischen Mitteln oder deren Androhung verschoben werden. Das muss Russland einsehen.

Handelsblatt: Droht durch Russland eine erneute Ost-West-Spaltung in Europa?

Schäuble: Es ist nicht zu spät. Ich hoffe immer noch, dass Russland wieder zurückkehrt zu einem Kurs der Kooperation. Wir halten die Tür offen. Russland hat mittelfristig mehr zu verlieren als wir. Deutschland hat an einer Eskalation kein Interesse, aber man darf die Vorgänge auf der Krim nicht einfach hinnehmen.

Handelsblatt: Viele osteuropäische EU-Staaten fühlen sich durch Russland ebenfalls bedroht.

Schäuble: Die Vorgehensweise, die Russland in der Ukraine an den Tag legt, schreckt andere natürlich auf. Da ist es gut zu erkennen, wie wichtig Europa ist. Die europäische Einigung und das atlantische Bündnis zeigen unsere starke Kooperation und Integration. Da ist es auch im besten Interesse Russlands, die Lage nicht weiter zu eskalieren.

Handelsblatt: Die deutsche Wirtschaft fürchtet schärfere Sanktionen gegen Russland. Werden sie zum Bumerang für den Exportmeister?

Schäuble: Die deutschen Wirtschaftsvertreter haben aber auch deutlich gemacht: Wenn es sein muss, muss es sein. Gerade weil militärische Mittel keine Rolle spielen dürfen, muss man Russland mit Diplomatie und wirtschaftlichem Druck überzeugen: Die Einhaltung von Regeln und Prinzipien der internationalen Gemeinschaft ist nicht nur im Interesse des Westens, sondern auch Russlands.

Handelsblatt: Bei Investitionen sind die Unternehmen wegen der Krim-Krise bereits vorsichtiger geworden. Auswirkungen auf die deutsche Konjunktur lassen sich kaum vermeiden.

Schäuble: Ich kann Folgen für die Konjunktur in Deutschland nicht ausschließen, aber im Zweifel wären sie beherrschbar.

Handelsblatt: Die Wirtschaftsweisen sehen das etwas anders. Sie halten die Krim-Krise derzeit für das größte Risiko für die Weltwirtschaft.

Schäuble: Für diese Feststellung muss man kein Wirtschaftsweiser sein. Wir hoffen, dass sich die Lage um die Ukraine beruhigt. Die Debatten, ob uns das schadet oder nicht, helfen nicht weiter. Bei einer Eskalation wird der Westen tun, was getan werden muss. Deutschland ist robust genug aufgestellt, mögliche negative Folgen auszuhalten. Niemand kann heute seriös sagen, wie sich dieser neue Konflikt auf den Welthandel und die Konjunktur auswirkt. Im Übrigen haben die von Ihnen zitierten Wirtschaftsweisen ihre Konjunkturprognose gerade nach oben korrigiert.

Handelsblatt: Die sieben führenden Industrienationen (G 7) haben das G8-Treffen im russischen Sotschi abgesagt. Moskau zeigt sich davon unbeeindruckt und verweist auf den G20-Gipfel in Australien. Müsste man Russland aus der Runde konsequenterweise nicht auch ausschließen?

Schäuble: Die Reaktion zeigt mir, dass Russland an der internationalen Gemeinschaft gelegen ist. Das ist ein gutes Signal. Die Debatte über einen G20-Ausschluss möchte ich deshalb gar nicht erst anfangen.

Handelsblatt: Der IWF hat gerade seine Mission in der Ukraine beendet. Wann wird das Hilfsprogramm stehen?

Schäuble: Vor den Wahlen in der Ukraine kann es nur um Soforthilfe gehen. Die sollte schnell beschlossen werden. Die Verwaltung muss funktionsfähig bleiben, Polizisten, Lehrer, Zöllner und andere öffentliche Angestellte müssen bezahlt werden, genauso die Gaslieferungen. Natürlich braucht die Ukraine Wahlen und eine demokratisch legitimierte Regierung. Es muss eine leistungsfähige Verwaltung geben, und die Korruption muss bekämpft werden. Die Ukraine ist kein armes Land. Wie so häufig führt dieser Reichtum aber nicht dazu, dass es dem Land gutgeht.

Handelsblatt: Wird Deutschland der Ukraine auch bilateral helfen?

Schäuble: Bei den geplanten Hilfen von EU und IWF ist Deutschland kräftig beteiligt. Ich habe dem ukrainischen Finanzminister in einem Telefonat gesagt, dass er mich wissen lassen soll, wenn er Hilfe braucht. Wir könnten technische Beratung bieten, etwa beim Aufbau der Verwaltung. Aber es ist zu früh, um konkrete Maßnahmen zu verkünden. Wichtig ist, dass die Hilfe insgesamt durch den IWF koordiniert wird.

Handelsblatt: Muss man vor dem Hintergrund der Krim-Krise in Europa die nächsten Integrationsschritte angehen?

Schäuble: Ich glaube, dass auch diese Krise Europa ein Stück voranbringen wird. Europa kommt in Krisen immer voran. Das ist kein Grund, sie sich zu wünschen, aber es ist eine positive Nebenwirkung.

Handelsblatt: Welche Schritte sollen wann folgen?

Schäuble: Jetzt haben wir erst einmal im Mai die Europawahlen. Gerade haben wir die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Frankreich gesehen mit einem stärkeren Abschneiden des rechtsextremen Front National. Auch in einigen anderen Ländern wachsen euroskeptische Bewegungen. Da braut sich einiges zusammen. Das ist keine gute Entwicklung.

Handelsblatt: Wie stark werden die Euroskeptiker und Populisten bei der Europawahl?

Schäuble: Vielleicht macht die Krise in der Ukraine den Menschen in Europa den Wert der europäischen Einigung wieder bewusster und motiviert sie zum Wählen. Dann würde die Wahlbeteiligung steigen, und die euroskeptischen Kräfte dürften schlechter abschneiden als viele heute befürchten.

Handelsblatt: Ist die Euro-Krise überwunden?

Schäuble: Die Stabilisierung unserer Währung ist uns besser gelungen, als viele sogenannte Experten erwartet haben. Auch George Soros hat nicht recht behalten mit seinen Schreckensszenarien. Er sagt noch immer dasselbe, aber es ist immer noch falsch.

Handelsblatt: Soros fordert unter anderem mehr Reformen in den Krisenländern. Zumindest damit liegt er doch auf Ihrer Linie.

Schäuble: Aber wie so viele außerhalb Europas hat er die Währungsunion nicht verstanden: Wir haben eine gemeinsame Geldpolitik, aber keine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Man muss aufpassen, dass keine falschen Anreize gesetzt werden. Wir dürfen die Haftung nicht vergemeinschaften, solange es keine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik gibt. Sonst trifft niemand mehr unbequeme Entscheidungen.

Handelsblatt: Dazu müssten die EU -Verträge geändert werden.

Schäuble: Nach der Europawahl wird die Debatte über Vertragsänderungen wieder auf den Tisch kommen. Die Bundesregierung wird dafür plädieren, dass wir zumindest in der Euro-Zone institutionelle Verbesserungen bekommen. Die Währungsunion braucht eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, mit den entsprechenden Institutionen. Die Einrichtung eines Euro-Zonen-Parlaments ist für uns genauso denkbar wie ein hauptamtlicher Euro-Gruppen-Chef.

Handelsblatt: Bei einem anderen zentralen Integrationsprojekt – dem Aufbau der Bankenunion gibt es Probleme. Für die Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank (EZB) fehlt immer noch ein Großteil des Personals. Warum verläuft das so schleppend?

Schäuble: Es ist allerdings auch schwer, qualifizierte Bankenaufseher in großer Zahl sehr schnell einzustellen. Das ist nicht ganz überraschend. Ich war da immer etwas skeptisch, als damals einige forderten, die Bankenaufsicht solle schon im Januar 2013 ihre Arbeit aufnehmen. Die Finanzminister haben ihre Arbeit gemacht. Gerade haben wir uns mit dem EU -Parlament auf die Ausgestaltung des Bankenabwicklungsmechanismus und des -abwicklungsfonds verständigt. Für die Aufsicht tragen jetzt andere die Verantwortung.

Handelsblatt: Notenbankchef Mario Draghi?

Schäuble: Ja, allen voran natürlich die EZB.

Handelsblatt: Aber auch bei der Bankenabgabe, mit der ein Fonds zur Abwicklung von Pleite-Banken gefüllt werden soll, ist vieles unklar.

Schäuble: Das stimmt. Die EU-Kommission muss so schnell wie möglich ihren Vorschlag vorlegen, wie die Bankenabgabe im Detail ausgestaltet werden soll. Bisher haben wir dazu nichts bekommen. Dabei stehen uns da noch schwierige Verhandlungen bevor. Die Interessen der Staaten sind sehr unterschiedlich. Umso wichtiger wäre es, jetzt schnell die Beratungen zu beginnen. Dafür brauchen wir den Vorschlag der Kommission.

Handelsblatt: Klar ist, dass es für die deutschen Institute teurer wird. Sie werden rund 15 Milliarden der 55 Milliarden Euro beisteuern müssen.

Schäuble: Die Belastung der Banken wird steigen, und zwar in ganz Europa. Aber nicht für alle Banken gleichermaßen. Wir wollen, dass kleine, risikoarme Banken weniger belastet werden als große, risikoreiche Institute. Aber noch sind viele Details unklar: In Deutschland haben wir beispielsweise die Regelung, dass der Beitrag der Banken nicht von ihrer steuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogen werden darf. Das sehen allerdings nicht alle EU-Länder so.

Handelsblatt: Die strittigen Details zur Bankenabgabe, die fehlenden Aufseher bei der EZB: Ist der Zeitplan zum Start der Bankenunion Anfang November noch zu halten?

Schäuble: Ja, aber dazu muss die Kommission ihren Teil erfüllen.

Handelsblatt: Und die EZB.

Schäuble: Natürlich. Ich verlasse mich auf die EZB. Die Bankenunion ist ein wichtiger Teil, um das Vertrauen in die Euro-Zone weiter zu festigen.

Handelsblatt: In den USA hat die Notenbank Fed den Ausstieg aus der Politik des billigen Geldes bereits verkündet. Warum ist Europa noch nicht so weit?

Schäuble: Die Amerikaner haben nicht zuletzt wegen der völlig veränderten Situation im Energiesektor – Stichwort Fracking – ein ganz neues Selbstvertrauen und eine gute Wirtschaftsentwicklung. Gott sei Dank! Aber auch in Europa geht es aufwärts. Die Aufgabe für die EZB ist es, Geldpolitik für die Euro-Zone als Ganzes zu machen, die Preisstabilität sichert. Momentan sind für Deutschland die Zinsen zu niedrig, für andere Länder noch zu hoch. Deshalb ist es wichtig, dass wir an Strukturreformen festhalten und die Wettbewerbsfähigkeit in vielen Ländern wieder steigt.

Handelsblatt: Was muss geschehen, damit Sie sagen: Die Euro-Krise ist überwunden?

Schäuble: In einigen Ländern brauchen wir stärkeres Wirtschaftswachstum. Wir müssen die Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen, schneller abbauen. Und manchmal habe ich auch die Sorge, dass wir in all den Diskussionen über die Euro-Krise vergessen, dass der Druck in Wahrheit viel stärker über die Globalisierung und die technologische Entwicklung kommt. Wir stehen nun mal in einem globalen Wettbewerb, der unseren Wohlstand und unsere soziale Sicherung unter Druck setzt. Um den standzuhalten, hilft nur eine bessere Ausbildung und Qualifikation.

Handelsblatt: Müsste die Große Koalition dann nicht mehr für Forschung und Bildung tun, anstatt Geschenke an Rentner zu verteilen?

Schäuble: Das macht die Bundesregierung doch. Wir erfüllen unser Ziel, dass Forschung und Entwicklung einen Anteil von drei Prozent am Bruttoinlandsprodukt haben.

Handelsblatt: Gleichwohl kritisieren die EU und der IWF die Investitionsschwäche in Deutschland.

Schäuble: Die Weltbank hat uns gerade bescheinigt, dass Deutschland weltweit über die beste Kommunikationsinfrastruktur verfügt. Aber keine Frage: Wir brauchen mehr Investitionen im öffentlichen Bereich und im privaten Bereich. Dies schafft man aber nicht durch staatliche Schulden, sondern durch gute Rahmenbedingungen. Dafür ist auch die Energiepolitik zentral. Wir leisten uns ein Maß an Regulierungsstandards, das andere so nicht haben. Die Europäer sind sehr risikoavers.

Handelsblatt: Sie planen für das kommende Jahr einen Haushalt ohne neue Schulden. Das haben sich schon viele Finanzminister vorgenommen. Sind Sie der erste Finanzminister seit 1969, dem die Umsetzung gelingt?

Schäuble: Theo Waigel hat gesagt: „Schon mancher hat das Gelobte Land gesehen, durfte es aber nicht betreten.“ Dieses Jahr wollen wir einen strukturell ausgeglichenen Haushalt und im kommenden Jahr ganz ohne Schulden auskommen. Das haben wir im Wahlkampf versprochen, und jetzt machen wir es so. Die Finanzplanung ist vorsichtig und solide. Denn es gibt immer Risiken.

Handelsblatt: Herr Minister, vielen Dank für das Interview

Das Interview führten Sven Afhüppe, Jan Hildebrand und Thomas Sigmund.