Kritische Phase ist noch nicht vorbei



Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Wall Street Journal

Von ANDREAS KIßLER, MARCUS WALKER und WILLIAM BOSTON

Wall Street Journal Deutschland: Manche Leute sagen, die heißeste Phase der Eurokrise ist vorbei und jetzt bleiben chronische Probleme. Aber die ganz große Gefahr ist nicht mehr da. Was ist Ihre Meinung?

Schäuble: Wir haben zwar Anzeichen dafür, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, erfolgreich ist, aber wir haben die kritische Phase noch nicht hinter uns. Griechenland ist in einer ganz kritischen, ganz schwierigen Phase. Die Unsicherheiten sind nach wie vor groß, also: Es wäre zu früh, jetzt schon Entwarnung zu geben.

WSJ: Muss in den kommenden Wochen eine Grundsatzentscheidung zu Griechenland getroffen werden? Den Griechen entweder bis 2020 noch einmal viel Geld leihen und riskieren – oder eine Insolvenz [Glossar] erlauben?

Schäuble: Die Entscheidung muss Griechenland treffen. Die Probleme in Griechenland sind ohne starke Anpassungen finanzpolitisch wie strukturpolitisch nicht zu bewältigen. Solche Veränderungen in einem demokratischen System durchzusetzen, ist nicht einfach.

Die Europäer sind bereit, Griechenland auf diesem Weg mit allem, was dafür notwendig ist, beizustehen. Aber wir können nicht ersetzen, dass Griechenland diese Maßnahmen umsetzen muss. Dazu braucht Griechenland sehr viel mehr Zeit, als vor zwei Jahren angenommen worden ist. Ohne dass Griechenland die notwendigen Entscheidungen implementiert und nicht nur ankündigt, ist es nicht zuschaffen. Dann gibt es gar keine Summe Geld, die das Problem lösen kann. Vielleicht müssen wir auch im Kreise der Partner darüber nachdenken, wie man den Griechen bei dieser schwierigen Aufgabe noch enger zur Seite stehen kann.

WSJ: Wird es am Ende auch einen Schuldenverzicht der öffentlichen Gläubiger geben?

Schäuble: Erstens: Die Europäische Zentralbank ist unabhängig. Die entscheidet, was sie zu entscheiden hat. Zweitens: Der Europäische Rat hat den Rahmen für das zweite Griechenland-Programm klar vorgegeben, und es gibt eine dem entsprechende Grundsatzeinigung mit dem Privatsektor. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der öffentliche Sektor – also die Steuerzahler in den Ländern der Eurozone [Glossar] – seit 2010 Griechenland mit vielen Milliarden zur Seite steht und dies auch in Zukunft tun wird.

Der Ansatz ist ausgewogen. Und jetzt müssen wir schauen, wie das Gesamtpaket aus Privatsektorbeteiligung, Evaluierung der Troika, was die Umsetzung der Maßnahmen des ersten Griechenland-Pakets betrifft, und zweitem Griechenland-Paket ausschaut.

WSJ: Sie haben gesagt, es gibt zurzeit keine Ausweitung der Mittel für den geplanten permanenten Rettungsschirm ESM. Aber im März wird es noch einmal evaluiert. Wie flexibel ist Deutschland in diesem Punkt?

Schäuble: Wir gewinnen Vertrauen, das wir verloren haben, im Euroraum nur dadurch wieder, dass wir eine stetige Politik machen. Das heißt, wir können nicht alle zwei Tage unsere Entscheidungen ändern. Sondern wir handeln Schritt für Schritt. Und sind dabei gar nicht so erfolglos.

Die Reihenfolge ist klar: Zunächst einmal müssen die Länder, von denen die Probleme ausgehen, die Lösung ihrer Probleme in Angriff nehmen. Dann haben wir gesagt, wir ziehen den Europäischen Stabilisierungsmechanismus nach vorne. Statt Mitte 2013 auf Mitte 2012.

Der ESM ist als permanente Internationale Finanzinstitution und mit eingezahltem Kapital viel besser aufgestellt als der EFSF. Wir treten dafür ein, schneller als vorgesehen Kapital einzuzahlen. Nach meiner festen Überzeugung gibt es für Finanzmärkte [Glossar] nichts Überzeugenderes als eingezahltes Kapital.

Vor einem Jahr ist immer gefragt worden: Steht Deutschland zur europäischen Währung? Das ist mittlerweile vielfach belegt. Und wenn Deutschland in den ESM Milliarden Kapital einzahlt, ist dies ein weiterer, starker Beweis für das Vertrauen in unsere gemeinsame Währung.

Dann gibt es die präventive Vorsorge gegen Ansteckungsgefahr. Erstens werden die systemrelevanten Banken gebeten, ihre Kapitalpuffer zu erhöhen. Zweitens haben die Staats- und Regierungschefs gesagt, im März werden wir im Lichte der Entwicklung überprüfen, ob die Rettungsschirme ausreichend ausgestattet sind. Das ist der vereinbarte Ablauf.

Deswegen werde ich jetzt nicht darüber spekulieren, was das Ergebnis der Überprüfung sein wird. Bisher sind lediglich 43,7 Milliarden der 440 Milliarden des EFSF belegt.

WSJ: Ist Haushaltsdisziplin für alle die falsche Medizin? Kritiker sagen, diese beruht auf einer Fehldiagnose der Krise, die vor allem eine Folge der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone ist.

Schäuble: Wir haben die Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Als ich vor etwas mehr als zwei Jahren Finanzminister geworden bin und zum ersten Mal in dieEurogruppe [Glossar] kam, haben mich all meine Kollegen gefragt: Wie willst du denn denStabilitäts- und Wachstumspakt [Glossar] erfüllen? Will sich Deutschland ein zweites Mal seit 2004 nicht an die europäischen Regeln halten? Und ich habe gesagt, ich werde das hinbekommen. Wir erfüllen unsere Anforderungen.

Als wir das erreicht hatten, ist gesagt worden, wir würden unsere Defizite zu schnell reduzieren und das Wachstum zerstören. Dann haben wir gute Wachstumszahlen erreicht. Und das Wachstum kommt ganz überwiegend durch die Binnennachfrage, durch Investitionen[Glossar] und Konsum. Denn die Menschen schöpfen Vertrauen. Dann kam der amerikanische Secretary of the Treasury nach Berlin und hat im Frühsommer vergangenen Jahres gesagt, dass man vielleicht in Amerika die Finanzpolitik [Glossar] etwas deutscher machen könnte, nämlich wachstumsfreundliche Defizitreduzierung.

All dies bestätigt, was ich von Anfang an all meinen Gesprächspartnern von Christine Lagarde bis zu Tim Geithner gesagt habe. Ich weiß nicht, wie man es in Amerika machen muss, aber in Deutschland ist es so: Wenn Sie mehr private Nachfrage wollen, müssen Sie den Menschen die Angst nehmen, sie müssen Vertrauen schaffen.

Deswegen ist eine vernünftige Reduzierung der zu hohen Defizite eine conditio sine qua non [unabdingbareVoraussetzung], um nachhaltiges Wachstum zu haben.

WSJ: Wo soll neues Wachstum im nächsten Jahr herkommen?

Schäuble: Die Prognosen sind, dass wir als Folge einer gewissen globalen Abschwächung und der Verunsicherung der Finanzmärkte in der Eurozone eine vorübergehende Eintrübung haben.

Die meisten Prognosen sagen aber auch, das ist sehr temporär. Rezession [Glossar] sieht anders aus als das, was in Deutschland zurzeit stattfindet.

WSJ: Jetzt sagen fast alle außerhalb Deutschlands: Wenn sie schon keinen Konjunkturanreiz setzen wollen, können sie die Sparpolitik zumindest verlangsamen?

Schäuble: Wir konzentrieren uns vor allen Dingen darauf, durch strukturelle Reformen – nicht nur auf die Finanzpolitik –das Wachstum dauerhaft zu stärken. Wir haben eine Arbeitsmarktreform gemacht. Wir investieren in die Zukunft und stärken weiter Bildung, Forschung und Innovation.

Diese Bundesregierung hat sich vom ersten Tag an zum Ziel gesetzt und dann auch umgesetzt, dass wir bei allen Sparbemühungen und Konsolidierungserfordernissen die notwendigen Mittel für Bildung, Wissenschaft, Forschung und auch Integration erhöhen.

WSJ: Wird der europäische Fiskalpakt zukünftige Konjunkturpakete gegen eine Rezession verbieten?

Schäuble: Wir haben sehr sorgfältig die Untersuchung von Rogoff und Reinhart gelesen. Sie haben empirisch belegt, dassab einem bestimmten Grad eine zu hohe Staatsverschuldung das Wachstum beeinträchtigt.

WSJ: Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski sagt, Europa brauche eher mehr als weniger deutsche Führungsverantwortung. Aber ein starkes Deutschland kann auch zu Ressentiments in anderen Ländern führen. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Schäuble: Indem wir immer wieder klar machen, dass wir nicht die Herren über Europa sind. Die immer mal wieder gehörte Kritik an der Bundeskanzlerin hebt sich inzwischen auf: Die einen sagen, sie trete zu stark auf; die anderen sagen, sie sei zu zögerlich. Sikorski hat die Rede hier in Deutschland gehalten, und wenn man die deutsch-polnische Geschichte kennt, dann muss man sagen, das war eine sehr bemerkenswerte Rede.

Und wenn ich Sentimentalität zulassen würde, kämen mir vor Rührung fast die Tränen. Das meine ich ernst. Wir bemühen uns in Europa einerseits, unsere Führungsverantwortung als größte Volkswirtschaft wahrzunehmen, und auf der anderen Seite nicht den Eindruck zu erwecken, als seien wir diejenigen, die ganz Europa immer die Richtung zeigen.

Europa muss Vielfalt und Einheit richtig balancieren. So kompliziert ist Europa. Aber das ist gut so. Früher war’s einfach in Europa: Da haben wir furchtbare Kriege geführt. Deswegen lieber kompliziert, und ein bisschen stabiler.

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The Wall Street Journal, 01/29/2012