„Ich bin gegen unerfüllbare Erwartungen“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit „Die Welt“

DIE WELT: In Ihrer ersten Rede als Bundesfinanzminister in einer Haushaltsdebatte haben Sie das Wort „Steuerreform“ vermieden. Warum?

Wolfgang Schäuble: Ich hatte den Haushalt 2010 einzubringen. Die Reform ist für 2011 avisiert.

Sie weichen aus.

Schäuble: Der Koalitionsvertrag wird Schritt für Schritt umgesetzt. Nach der Steuerschätzung im Mai und vor der Kabinettbefassung mit dem Haushalt 2011 Ende Juni, bei der wir auch die mittelfristige Finanzplanung fortsetzen müssen, werden wir über diese Themen reden.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit sagten Sie, in dieser Legislaturperiode werde das Steuersystem nicht grundlegend umgebaut. Angela Merkel hat der FDP aber die Steuerstrukturreform versprochen. Dazwischen liegen Welten.

Schäuble: Die Kanzlerin hat gesagt, was im Koalitionsvertrag steht. Ich beschäftige mich seit Langem mit dem Thema „Steuerreform“ und spreche aus Erfahrung. Deshalb weiß ich, dass sich eine grundlegende Reform nur mit einer deutlichen Entlastung verwirklichen lässt. Das ist unstreitig. Ich bin gegen unerfüllbare Erwartungen.

Und das heißt für die Reform?

Schäuble: Das Steuerrecht muss vereinfacht werden. Und wir brauchen eine Entlastung. Schon mittlere Einkommen werden stark besteuert. Das soll abgebaut werden, ohne die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse zu verletzen.

Mal ganz plakativ: Kommt der Stufentarif oder kommt er nicht?

Schäuble: Da wir im Juni entscheiden, kann ich jetzt nicht mit plakativen Formeln dienen.

Warum reden Sie nicht schon vor der Steuerschätzung im Mai darüber? Für die langfristige Schuldenbremse hat eine einzige Steuerschätzung kaum Folgen.

Schäuble: Wir können die Lage dann besser einschätzen. Die Prognosen zum Wirtschaftswachstum variieren sehr. Der Internationale Währungsfonds sagt 0,3 Prozent voraus. Die Bundesregierung geht bislang von 1,2 Prozent aus. Mag sein, dass Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle bei der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts in der kommenden Woche noch einige Zehntel höher gehen wird. Andere prognostizieren sogar bis zu 2,8 Prozent Wachstum. Wie mein Vorgänger und die frühere Regierung bleibe ich vorsichtig. Und ich halte es für legitim, kontroverse Debatten nicht kurz vor einer Wahl zu führen.

Sie meinen die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai?

Schäuble: Ja. In einer Demokratie werden Entscheidungen nicht einfach angeordnet, sondern vor Beschlussfassung ausgiebig diskutiert. Ich muss heute erklären, dass knapp 86 Milliarden Euro Neuverschuldung notwendig sind. Würde ich zeitgleich von Entlastungen reden, würde ich die Menschen nur verwirren.

Man soll den Bürgern vor Wahlen aber sagen, was auf sie zukommt.

Schäuble: Deswegen bin ich sehr deutlich: Wir müssen 2011 mit dem Sparen beginnen – vorausgesetzt, die Krise ist vorbei. Das heißt aber nicht, dass es 2011 einen abrupten Kurswechsel gibt. Wir müssen immer noch hohe Schulden machen. 70 Milliarden Euro strukturelles Defizit kann man nicht auf einen Schlag einsparen. Wer zusätzlich Steuerentlastungen will, muss zusätzliche Einsparmöglichkeiten finden.

Im gleichen Ausmaß?

Schäuble: Natürlich. Die Schuldenbremse gilt. Und alle in der Koalition sind fest entschlossen, sich daranzuhalten.

Können Sie sich eine Reform vorstellen, die nur auf Vereinfachung hinausläuft?

Schäuble: Echte Steuervereinfachungen sind nie aufkommensneutral. Aber wir brauchen Vereinfachungen. Wenn Sie den Koalitionsvertrag lesen, sehen Sie, dass es viel Beratungsbedarf gibt, um in voller Vertragstreue sagen zu können, was konkret zu tun ist. Das machen wir im Mai und Juni.

Im „Focus“ sagten Sie, man werde entscheiden, „ob, wann und wie“ es Entlastungen gebe. Horst Seehofer hat dazu nach dem Koalitionsgipfel des vergangenen Sonntags angemerkt, ein „Ob“ stehe nicht zur Debatte. Gibt es einen Widerspruch?

Schäuble: Nein. Das Interview wurde auf der Grundlage des Koalitionsvertrages geführt, genau wie das Gespräch der Parteivorsitzenden.

Nehmen Sie für sich ein Vetorecht gegen eine Steuerreform in Anspruch?

Schäuble: Mir ist nicht bekannt, dass der Bundesfinanzminister über dem Gesetzgeber steht.

Kürzlich sagten Sie auch, mittelfristig könne es kein niedrigeres Steuer- und Abgabenniveau geben. Wer Steuern senken will, muss also die Sozialbeiträge erhöhen?

Schäuble: Nein. Ich sprach über den Anteil des öffentlichen Sektors am Volkseinkommen und habe darauf verwiesen, dass im europäischen Vergleich weder die Steuer- noch die Abgabenquote überdurchschnittlich hoch sind. Im Wesentlichen will die Mehrheit der Bevölkerung das heutige Maß an Daseinsvorsorge, Sicherheit, sozialer Sicherung. Wir wollen ein Land mit funktionierenden Strukturen bleiben.

Kann man das alles nur dank hoher Staatsquote bekommen? Was ist mit dem urliberalen Gedanken, mehr Eigenverantwortung, also mehr Freiheit zu geben? Sie sagen, unser System hat die Balance grosso modo ganz gut hingekriegt.

Schäuble: Unsere Ordnungen sind labile Gleichgewichte. Unsere Systeme bergen die Gefahr dazu, sich durch Übertreibungen selbst zu zerstören, siehe die Finanzkrise. Ebenso kann zu viel Regulierung Antriebskräfte lähmen. Alle in der Koalition der Mitte wissen das. Wir wollen die soziale Marktwirtschaft, aber effizienter. Dazu zählen auch freiwillige Regeln. Deshalb habe ich alle Minister im Aufstellungsrundschreiben für den“ Haushalt aufgefordert, die im Koalitionsvertrag vereinbarten „goldenen Regeln“ einzuhalten. Der Erfolg von Politik sollte sich nicht nur daran bemessen, wie viel zusätzliches Geld ausgegeben wurde, sondern auch daran, welches Ergebnis damit erzielt wurde.

Sind Ideen, wie sie Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren zur Einhegung der Staatstätigkeit entwickelthat, noch aktuell?

Schäuble: Die Sozialleistungen der öffentlichen Hand inklusive der gesetzlichen Sozialversicherungen belaufen sich heute auf rund eine Billion Euro im Jahr. Geteilt durch 80 Millionen Einwohner, sind es etwa 12 500 Euro pro Person. Wir hatten die Sozialgesetze eingeführt, um Menschen durch staatliche Leistungen vor Armut zu bewahren. Es ist ein paradoxer Widerspruch, dass Menschen gerade dann als arm wahrgenommen werden, weil sie staatliche Transferleistungen beziehen.

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