Gastbeitrag für die „Financial Times“: „Staatsschulden und Inflationsgefahren, oder: Keynesianismus ja, aber richtig“



Erschienen am 02. Juni 2021 in der Financial Times

„In the long run we are all dead“ – so John Maynard Keynes vor 85 Jahren. Der Ökonom hielt es deshalb für nötig, kurzfristig in die Wirtschaft einzugreifen und in Krisenzeiten die Konjunktur zu stabilisieren. Die Konjunkturprogramme der letzten Monate, darunter der EU-Wiederaufbaufonds, stehen in dieser Tradition. Ich habe das von Anfang an unterstützt, was manche überrascht hat. In meiner Zeit als Finanzminister stand ich im Ruf, aus Prinzip sparsam zu sein. Dabei ging es mir damals wie heute um Nachhaltigkeit: Die Aufnahme von Krediten zur Konjunkturstimulierung in Krisenzeiten ist richtig, solange die Rückzahlung nicht aus dem Blick gerät. Die Notwendigkeit späterer Tilgung wird oft übersehen. Viele Regierungen konzentrieren sich auf den „bequemen“ Teil des Keynesianismus, das Schuldenmachen, und zögern die Begleichung ihrer Verbindlichkeiten hinaus. Die Folge sind kontinuierlich anwachsende Staatsschulden. Über kurz oder lang droht so Inflation. Keynes sah darin eine große Gefahr mit dem Potential, „das Fundament der Gesellschaft umzustürzen.“

In vielen Regionen der globalisierten Welt steht der Geldwert aktuell unter Druck, auch in der EU. Die schuldenfinanzierte Fiskalpoli¬tik wird hier stärker als anderswo monetär flankiert. Die Zentralbankgeldmenge in der Euro-Zone wurde massiv erhöht, ohne dass ihr ein adäquater Zuwachs an Gütern und Dienstleistungen gegenübersteht. Das lässt bei Unternehmen und privaten Haushalten Inflationserwartungen wachsen. Damit riskieren die Währungshüter, dass eine beginnende Geldentwertung kaum noch gestoppt werden kann.

Aktuell mehren sich Anzeichen einer solchen Inflationsspirale. Der Verbraucherpreisindex ist zuletzt merklich gestiegen. Er überschreitet inzwischen den EZB-Referenzwert von „unter, aber nahe 2 %“. Das hat nicht nur Zentralbanker alarmiert. Auch keynesianische Wirtschaftsexperten wie Larry Summers oder Olivier Blanchard beklagten unlängst, dass bei den Staatsschulden rote Linien überschritten wurden und weltweit die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierten Inflation zugenommen hat. Bei Immobilien, Aktien und Kunstobjekten ist die Gefahr bereits akut. Der Vermögenspreisindex stieg im vorigen Jahr um 6,3 %. Quartalsweise lagen die Steigerungsraten sogar im zweistelligen Bereich, Tendenz zunehmend. Offenbar wird ein beträchtlicher Teil des von der EZB geschaffenen Geldüberhangs auf dem Kapitalmarkt oder in Wohnraum angelegt und befeuert spekulative Blasen.

Das ist nicht nur ein ökonomisches Problem. Es birgt auch Gefahren für das soziale Gefüge. Kreditgeber des Staates sind überwiegend Wohlhabende. Ihr Vermögen wächst durch die Staatsschulden an. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Keynes hat vor dem Hass auf die Profiteure schon 1919 gewarnt. Und tatsächlich steckt im Konflikt zwischen „Haves“ und „Have-Nots“ trotz aller Sozialleistungen des Staates sozialer Sprengstoff, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt enorm gefährdet.

Wir müssen deshalb zurück zur geldpolitischen und fiskalischen Normalität. Die Last der Staatsschulden muss reduziert werden. Sonst droht nach Corona eine „Schuldenpandemie“, die fatale Folgen für die Wirtschaft in Europa hätte. Schon heute sind Länder wie die USA oder China im Bereich Produktivität und Workload dem demographisch überalterten Europa voraus. Dieser Wettbewerbsnachteil würde sich weiter vergrößern, wenn die EU-Staaten ihre finanzielle Handlungsfähigkeit durch Überschuldung aufs Spiel setzten. Deshalb muss jedes Mitglied der Euro-Zone Anstrengungen unternehmen, zu stärkerer Haushaltsdisziplin zurückzukehren.

Die Erfahrung lehrt, dass ausgeglichene Haushalte in den Hochschuldenländern kaum ohne Druck von außen erreicht werden. Sich selbst überlassen, un¬terliegen Mitglieder in einem Staatenbund leicht der Versuchung, sich auf Kosten der Gemeinschaft zu verschulden. Über solchen „Moral Hazard“ habe ich oft mit Mario Draghi diskutiert. Wir waren uns immer einig, dass bei der Struktur der Europäischen Währungsunion die Mitgliedstaaten für Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltige Finanzpolitik zuständig sind. Ich bin sicher, dass er das jetzt auch als Ministerpräsident Italiens durchsetzen will. Das wäre nicht nur für sein Land, sondern für die ganze EU wichtig. Sonst bedarf es einer europäischen Institution, die auf Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Regeln drängt und über die Macht verfügt, sie anzuwenden. Dazu braucht es Vertragsänderungen, aber auch ohne kommt der EU-Kommission mehr denn je Verantwortung als Richtungsgeber und Schrittmacher in Europa zu.

Ein vielversprechender Ansatz, mit dem Brüssel das Schuldenproblem po-litisch in den Griff bekommen könnte, wäre ein Schuldentilgungspakt für die Euro-Zone nach dem Vorbild historischer Sinking Funds von Robert Walpole bis Alexander Hamilton. Der erste amerikanische Finanzminister verpflichtete 1792 die noch jungen US-Bundestaaten, werthaltige Pfänder zu hinterlegen, Haushaltsdisziplin zu wahren und Schulden abzubauen. Das war die Crux des vielzitierten „Hamilton-Moments“ und nicht etwa die Vergemeinschaftung der Schulden, wie das bisweilen für die EU empfohlen wird.

Der Tilgungs-Plan hat funktioniert und könnte heute wieder zum Erfolg führen. Er bietet jene „mixed strategy“ aus Fördern und Fordern, wie sie auch vom IWF verfolgt wird – einem weiteren Erbe von Keynes, der an der Gründung des Währungsfonds maßgeblich beteiligt war. Ich bin zuversichtlich, dass Europa die Einsicht besitzt, dem britischen Ökonomen auch in diesem Aspekt seiner Lehre zu folgen.