Es ist schön, wieder da zu sein



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Bild am Sonntag

Herr Minister, wie geht es Ihnen?

Wolfgang Schäuble: Es geht mir gut. Wenn man drei Wochen im Krankenhaus verbracht hat, und die Ärzte einem dann sagen: ‚Alles in Ordnung. Sie dürfen gehen‘, dann geht es einem gut. Ich mache mir aber nichts vor: Ich kann nicht sofort wieder 150 Prozent geben. Ich muss jetzt erst mal etwas langsamer machen.

Was heißt das?

Wolfgang Schäuble: Zwischen den Sitzungen werde ich künftig öfter mal eine Pause machen. Und ich will mich noch stärker auf die wirklich wichtigen Termine konzentrieren. Also: Ich starte mit knapp unter 100 Prozent.

Was bedeutet Ihnen die Rückkehr in die Politik?

Wolfgang Schäuble: Es ist schön, wieder da zu sein. Auch wenn man sofort mit allen möglichen Problemen konfrontiert wird. Und ich hatte gedacht, ich hätte alle vom Krankenhaus aus gelöst…

Sie kehren früher in die Politik zurück als angekündigt. Sind Ihre Ärzte damit einverstanden?

Wolfgang Schäuble: Ja, denn das Problem ist gelöst. Ich hatte eine schwer heilende Wunde im Sitzbereich, die operativ behandelt werden musste. Danach durfte ich diesen Bereich drei Wochen lang nicht belasten. Sicherheitshalber habe ich eine Auszeit von vier Wochen angekündigt. Jetzt bin ich ein paar Tage früher wieder da – umso besser.

Was sind Ihre ersten Termine?

Wolfgang Schäuble: Mein erster Termin ist die Sitzung des CDU-Präsidiums am Montag um 9 Uhr. Im Bundestag geht es diese Woche unter anderem um das Haushaltsbegleitgesetz und am Donnerstag reise ich in die Schweiz, um dort das Doppelbesteuerungsabkommen[Glossar] zu unterzeichnen.

Ihnen wurden Rücktrittsgedanken nachgesagt. Was ist da dran?

Wolfgang Schäuble: Die Frage, ob jemand, der eine hohe politische Verantwortung hat, diese auch physisch und nicht nur politisch-intellektuell tragen kann, ist legitim. Debatten über meinen Rücktritt habe ich deshalb nie als diskriminierend empfunden. Stimmen, die gesagt haben, man muss Rücksicht nehmen, er wird ja selber am besten wissen, wann es genug ist, habe ich als angenehm empfunden. Wenn mich niemand drängt, dann weiß ich selbst am besten um die Verantwortung. Ich habe nicht über Rücktritt nachgedacht, aber ich prüfe mich fortwährend. Ich habe da ein von vielen als altmodisch angesehenes Verständnis von Pflichten. Und ich frage mich stets: Kann ich den Pflichten dieses Amtes gerecht werden? Dazu gehört auch die Frage der Gesundheit. Solange ich überzeugt bin „ich kann es“ mache ich das Amt mit Freude. Wenn ich zu einer anderen Überzeugung käme, müsste ich damit auch leben. Da gilt der alte biblische Satz: Alles hat seine Zeit. Ich bin jetzt 68 Jahre alt und seit 20 Jahren querschnittsgelähmt.

Als Sie am 28. September in die Klinik gebracht wurden, wie sicher waren Sie sich da, dass Sie ins Amt zurückkehren?

Wolfgang Schäuble: Ich war jedenfalls zuversichtlich. Wenn ich nicht davon ausgegangen wäre, dass das Problem in vier Wochen zu lösen ist,  hätte die ganze Auszeit keinen Sinn gemacht. Dann hätten wir uns allen die Debatte um meine Person schenken können. Darüber habe ich vorher mit der Bundeskanzlerin gesprochen, die mich sehr unterstützt hat. Das muss ich voller Dankbarkeit sagen. Und ich bin sehr zuversichtlich, was die Zukunft anbetrifft. Aber was ist schon sicher?

Noch während Sie im Krankenhaus lagen, wurde über mögliche Nachfolger wie Thomas de Maiziere oder Roland Koch spekuliert. Wie haben Sie das empfunden?

Wolfgang Schäuble: Völlig entspannt…

Weil Sie wussten, die werden es eh nicht…

Wolfgang Schäuble: Nein. Die Debatte über meine Nachfolge hat mich nicht belastet. Aber es war mir völlig klar, dass die Debatte kommen würde. Ich selbst habe doch immer wieder die Frage gestellt, ob man als Schwerbehinderter politische Führung tragen kann. Ich glaube, die Frage ist beantwortet. Man kann.

Am 12. Oktober, dem 20. Jahrestags des Attentats auf Sie, lagen Sie in Berlin in der Klinik – wegen der Folgen dieses Anschlags. Hadert man an einem solchen Tag mit dem eigenen Schicksal?

Wolfgang Schäuble: Ich empfinde es als Unfall und als Schicksalsschlag, aber ich habe damit nie gehadert. Der Mann, der auf mich geschossen hat, war krank. Das ist das Leben. Andere Menschen haben ein viel schwereres Schicksal. Wenn Sie darüber hadern, dass Sie im Leben auch Schweres erleiden müssen, machen Sie sich das Leben nicht schöner. Hier gilt mein alter Satz: S’isch wie’s isch. Das Beste daraus machen.

Haben Sie ein Ritual für den 12. Oktober entwickelt?

Wolfgang Schäuble: Der 12. Oktober ist für ich nur ein Datum. Wenn ich nicht in der Zeitung daran erinnert würde, würde ich ihn sogar vergessen.

Der Attentäter ist vor sechs Jahren aus der Psychiatrie entlassen worden. Sie kämpfen immer noch mit den Folgen der Verletzung. Ist das gerecht?

Wolfgang Schäuble: Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Ich habe gegenüber ihm keine Gefühle. Mein Mitleid gegenüber seinem Schicksal ist begrenzt, ich bewerbe mich ja nicht um die Heiligsprechung.

Gab es jemals Kontakt?

Wolfgang Schäuble: Die Eltern haben mir damals einen sehr bewegenden Brief geschrieben. Ich habe ja den Vater des Attentäters gut gekannt, er war Kommunalpolitiker und Bürgermeister einer Gemeinde in meinem Wahlkreis. Ich habe ihnen geantwortet: Ich habe für Sie genauso viel Mitgefühl wie Sie für mich. Aber ich muss mit meinem Schicksal klar kommen, und Sie mit Ihrem.

Seit zehn Jahren ist das Tischtuch zwischen Helmut Kohl und Ihnen zerschnitten. Zum Tag der Einheit hat sich Helmut Kohl über Sie gesagt: “Ich grüße ihn mit großer Herzlichkeit und wünsche ihm gute Besserung. Er ist Teil der CDU. In diesen schwierigen Tagen soll er das ganz genau wissen.” Wie sehr hat Sie das berührt?

Wolfgang Schäuble: Ich rede über Helmut Kohl so freundlich wie er über mich jetzt geredet hat. Dass ich zur CDU gehöre, ist ja nichts Neues, ich war schließlich sein Nachfolger als Parteivorsitzender und bin bis heute Mitglied des CDU-Präsidiums. Aber ich fand es schön. Und ich spreche seit zehn Jahren aus tiefer Überzeugung voller Respekt und Dankbarkeit über seine politischen Leistungen. Ich hoffe, dass ihn das erreicht hat.

Sie reden freundlich übereinander, aber nicht mehr miteinander…

Wolfgang Schäuble: Wenn wir uns sehen, sprechen wir auch miteinander. Das ist überhaupt kein Problem. Zuletzt zum Beispiel beim Geburtstag von Karl Kardinal Lehmann. Aber unsere enge persönliche Beziehung ist beendet. Dennoch freut es mich für ihn, dass sein gesundheitlicher Zustand viel besser ist als die Nachrichten der vergangenen Monate vermuten ließen. Ich wünsche ihm, dass er mit den Beschwernissen des Alters und nach dem schweren Sturz so gut wie möglich zu Rande kommt.

Während Sie im Krankenhaus lagen, hat die Bundeskanzlerin einen heftig umstrittenen Kompromiss mit Frankreich zur Reform des EU-Stabilitätspaktes geschlossen. Entgegen den Ankündigungen der Bundesregierung und den Plänen der europäischen Finanzminister wird gegen Mitgliedsstaaten, die sich wie Griechenland hemmungslos verschulden, nicht automatisch ein Strafverfahren eingeleitet. Wird die Stabilität des Euro [Glossar] um des lieben Friedens mit Frankreich willen aufs Spiel gesetzt?

Wolfgang Schäuble: Deutschland hat erreicht, dass wir mehr Stabilität haben als bisher und mehr als viele für erreichbar hielten. Ich war an der Vorbereitung der Gespräche der Kanzlerin mit Sarkozy sowie der parallelen Beratungen in der Task Force der EU-Finanzminister  stark beteiligt. Die Bundesregierung hat einen großen und über alle Erwartungen erfolgreichen Beitrag zur Stärkung des Stabilitätspakts geleistet. Natürlich haben wir unsere Vorstellungen nicht zu 100 Prozent durchgesetzt. Aber wer glaubt, das ginge bei 27 Mitgliedsländern, dem fehlt das Verständnis für Europa. Es gab niemals eine realistische Chance für automatische Sanktionen gegen Defizitsünder. Deutschland ist nicht umgefallen.

Nach Ihrer Logik fehlt Außenminister Westerwelle, der den Kompromiss scharf kritisiert hat, also das Verständnis für Europa…

Wolfgang Schäuble: Wie kommen Sie darauf? Wir sind uns im Ziel alle einig, vor allem hinsichtlich notwendiger Vertragsänderungen. Der Außenminister hält dieses Ergebnis für sehr befriedigend und einen großen Fortschritt. Westerwelle hat doch einen Krisenbewältigungsmechanismus gefordert. Den haben wir jetzt möglich gemacht. Die deutsch-französische Achse hat Europa ein großes Stück voran gebracht.

Westerwelle sagt aber: “Ein harter Euro kann keine weichen Regeln vertragen.” Er fordert eine Regelung “mit Autorität und Durchsetzungskraft”. Wie kann das sein?

Wolfgang Schäuble: Manchmal gibt es Missverständnisse auch in der Kommunikation. Die Regeln werden ja deutlich härter und nicht weicher.

Was ist daran misszuverstehen, wenn die FDP der Kanzlerin “Wortbruch” gegenüber den Steuerzahlern vorwirft?

Wolfgang Schäuble: Vielleicht habe ich im Krankenhaus nicht alles so genau mitbekommen… (lacht)

Jetzt verstehen wir, welche Kommunikationsprobleme Sie meinen…

Wolfgang Schäuble: Wir sollten den Blick nach vorne richten und uns lieber auf die Substanz konzentrieren. Und da stimmen alle Regierungsmitglieder überein. Jetzt müssen wir versuchen, möglichst viel im kommenden Europäischen Rat umzusetzen.

Die Bundesbürger interessiert vor allem eines: Gewährleistet der neue Stabilitätspakt, dass es keinen zweiten Fall Griechenland geben wird?

Wolfgang Schäuble: Wir haben die richtigen Lehren aus dem Fall Griechenland gezogen. Erstens: mit dem dauerhaften Krisenbewältigungsmechnismus wollen wir den Markt, also die Halter von Staatsanleihen künftig in die Verantwortung zu nehmen. Das muss noch verwirklicht werden, wir sind aber jetzt einen großen Schritt voran gekommen. Zweitens: wir verschärfen den Sanktionsmechanismus gegen Haushaltssünder.. Sanktionen kommen früher, schneller und schärfer. Erstmals können nicht nur Geldstrafen verhängt, sondern sogar EU-Gelder für ein Land gestrichen werden. Und: Diese Sanktionen können nur von einer Mehrheit im Rat gestoppt werden – wir haben also einen quasi-automatischen Mechanismus geschaffen.

Ende der Woche soll der Bundestag das Haushaltsbegleitgesetz endgültig verabschieden. Wie gesund sind die Staatsfinanzen?

Wolfgang Schäuble: Die Staatsfinanzen sind derzeit überhaupt nicht gesund! Wir werden in diesem Jahr rund 50 Milliarden Euro neue Schulden machen. Das sind zwar deutlich weniger als die im letzten Jahr noch befürchteten 86 Milliarden, aber es ist immer noch der höchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik.

Aus der Wirtschaft kommen jede Menge gute Nachrichten: 3,4 Prozent Wachstum, bald weniger als 3 Millionen Arbeitslose und 30 Milliarden zusätzliche Steuereinnahmen in diesem und im nächsten Jahr. Kann der harte Sparkurs jetzt nicht etwas gelockert werden?

Wolfgang Schäuble: Ganz im Gegenteil! Wenn man auf dem richtigen Weg ist, darf man nicht abbiegen oder umkehren, sondern muss beherzt voran schreiten. Das sehen alle in der Koalition so. Die Koalition hat ja auch einen guten Beitrag zu der günstigen Entwicklung in diesem Jahr geleistet. Ein richtiger Weg hat Früchte.

Warum wird dann diskutiert, ob man von Ihrem Sparpaket nicht die eine oder andere Milliarden wegnehmen kann, zum Beispiel für Erleichterungen bei der Ökosteuer [Glossar] für die Industrie?

Wolfgang Schäuble: Veränderungen in Einzelpunkten können notwendig sein. So werden wir bei der Energie- und Stromsteuer [Glossar] noch genau prüfen, ob die Auswirkungen für die einzelnen Teile der Wirtschaft tragbar sind. Da gibt es Korrekturbedarf. Was wir da weniger einnehmen, muss an anderer Stelle aber wieder gespart werden. Am Gesamtvolumen des Sparpakets wird nicht gerüttelt. Das stellt auch niemand in Frage.

FDP-Fraktionschefin Homburger fordert von Ihnen bis Jahresende einen Gesetzentwurf zur Steuervereinfachung. Schaffen Sie das?

Wolfgang Schäuble: Die Vorbereitungen zur Steuervereinfachung, einem wichtigen Ziel der Koalition, laufen ja seit einiger Zeit mit hoher Intensität und sind unter den Fachpolitikern der Koalition auch schon besprochen worden. Zur Zeit stimmen wir uns mit den Ländern ab. Ich gehe davon aus, dass die Koalition im Dezember die notwendigen Entscheidungen treffen kann.

Die FDP glaubt angesichts des Geldregens schon wieder an Steuersenkungen. Zu recht?

Wolfgang Schäuble: Ich bin da ganz nah bei meinem Kollegen, Wirtschaftsminister Brüderle: Erstens muss das Konsolidierungsprogramm eingehalten werden. Zweitens können wir noch in dieser Legislaturperiode den Rahmen für längerfristige Steuererleichterungen beschließen –  ohne dass ich heute schon sagen kann, wann diese Erleichterungen dann in Kraft treten.

Empfehlen Sie wie Brüderle auch kräftige Lohnerhöhungen, wenn schon die Steuern nicht gesenkt werden können?

Wolfgang Schäuble: In Deutschland entscheiden darüber die Tarifparteien und die verwahren sich mit Recht gegen Einmischungen aus der Politik. Grundsätzlich aber gilt: In der globalisierten Welt geht es nicht gerecht zu. Wir haben deshalb die Riesen-Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das Gefühl von Gerechtigkeit nicht zu stark verletzt wird. Die Unterschiede zwischen den Menschen auf der Sonnenseite und den anderen werden größer. Ich kann einem Menschen, der auf Hartz IV angewiesen ist, nicht so einfach erklären, warum es auf der anderen Seite unermesslichen Reichtum gibt.

Droht unserer Gesellschaft eine Zerreißprobe?

Wolfgang Schäuble: Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Der soziale Friede ist eine große Errungenschaft der Bundesrepublik. Ihn gilt es um jeden Preis zu bewahren.

Während Ihrer Abwesenheit gab es die eine oder andere heftige Kontroverse, beispielsweise bei den Themen Zuwanderung und Integration. Bundespräsident Christian Wulff hat gesagt: “Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland”. Wie haben Sie das empfunden?

Wolfgang Schäuble: Es ist schlicht die Wahrheit, die Christian Wulff ausgesprochen hat. Der Bundespräsident hat uns den Weg gezeigt, den wir gehen müssen. Dieser Weg entspricht der modernen Welt des 21. Jahrhunderts. Wulff hat ein Beispiel dafür gegeben, was das Amt des Bundespräsidenten leisten kann.

Nächste Woche ist die schwarz-gelbe Koalition ein Jahr im Amt. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Regierung in einem Jahr so viel Vertrauen beim Wähler verspielt. Ist die Regierung Merkel noch zu retten?

Wolfgang Schäuble: Selten hat eine Regierung in einem Jahr so viele Erfolge erzielt wie die schwarz-gelbe Koalition. Aber Veränderungen und Reformen sind zunächst immer mit einem Verlust an Zustimmung für die jeweilige Regierung verbunden. Das ist seit Konrad Adenauer so, und das hat auch Helmut Kohl erlebt.

Kohl war nie bei 30 Prozent.

Wolfgang Schäuble: Alle traditionellen Institutionen – von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen – haben Vertrauen verloren. Das ist bei den Volksparteien nicht anders. Wir leben nicht mehr in den 50er Jahren. Wer das bestreitet und fordert, die Union müsse zurück zu konservativen Werten, der hat nicht begriffen, wie Politik funktioniert. Angela Merkel hat verstanden, wie es geht. Darum werden die Schwierigkeiten mit den Meinungsumfragen auch vorübergehen.

Viele in der Union glauben, nur Guttenberg könne die Union noch retten…

Wolfgang Schäuble: Das glauben nur die Medien. Die allermeisten in CDU und CSU teilen meine Meinung, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin bleiben muss. Sie macht es gut. Aber: Gleich als zu  Guttenberg in den Bundestag kam, war erkennbar, dass er ein weit überdurchschnittlicher Politiker ist. Guttenberg ist ein Schatz für die Union. Und er leidet unter dieser Kanzler-Diskussion doch selber am meisten.

Viele sagen: Baden-Württemberg hat für die CDU eine ähnliche Bedeutung wie Nordrhein-Westfalen für die SPD. Wird die Wahl in Ihrem Heimatland am 27. März zur Schicksalswahl für Angela Merkel?

Wolfgang Schäuble: Die Situation ist nicht vergleichbar. Baden-Württemberg hat unter der Führung der CDU eine Spitzenstellung in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen war es unter Führung der SPD das genaue Gegenteil. Aber in Baden-Württemberg gibt es ein Problem, das genauso gut an jedem anderen Ort Deutschlands hätte entstehen können.

Sie meinen “Stuttgart 21” – den umstrittenen Neubau des Hauptbahnhofs unter der Erde.

Wolfgang Schäuble: Bei der Frage, ob im Stuttgarter Schlosspark 200 Bäume gefällt werden sollen, sagen 90 Prozent der Weltbevölkerung: Habt Ihr sonst keine Probleme? Trotzdem nehme ich diesen Protest ernst, gebe aber zu bedenken: Die Grundstruktur unseres repräsentativen demokratischen Systems mit der starken rechtsstaatlichen Einbindung ist ein großer Gewinn für die Nachhaltigkeit [Glossar] unserer Freiheitsordnung. Wir sollten sie nicht aufs Spiel setzen.

Ist es nun eine Schicksalswahl oder nicht?

Wolfgang Schäuble: Es ist eine sehr, sehr wichtige Wahl. Wenn wir Baden-Württemberg verlieren sollten, nachdem die CDU dort so erfolgreich regiert hat, wäre das sehr schmerzlich für uns und für Baden-Württemberg. Ich habe die Sorge, dass eine Minderheit – nämlich die, die sich gegen die Landesregierung und den Bahnhof engagieren – am Ende die Wahl entscheiden. Aber, so sind die Regeln unserer Demokratie, auch das müsste man respektieren.

War es eine gute Idee, die Landtagswahl zu einer Volksabstimmung über Stuttgart 21 zu erklären?

Wolfgang Schäuble: Was die Bundeskanzlerin gesagt hat war vollkommen richtig. Wir treffen unsere Entscheidungen nach Recht und Gesetz. Stuttgart 21 ist seit Mitte der 90er Jahre auf allen parlamentarischen Ebenen mit großen Mehrheiten beschlossen worden.

Sie kennen Heiner Geißler eine Ewigkeit. Trauen Sie ihm zu, den Konflikt noch vor den Wahlen zu schlichten?

Wolfgang Schäuble: Ja klar. Heiner Geißler hat große Fähigkeiten und kommt gut voran. Sein Vorschlag, eine Art Friedenspflicht einzuhalten, ist richtig: Die Bahn verzichtet auf alle nicht unbedingt notwendigen Baumaßnahmen, und im Gegenzug sollen die Demonstrationen ausgesetzt werden. Davon aber ist nichts zu hören, im Gegenteil wird weiter protestiert und demonstriert. Wenn schon Friedenspflicht, dann für beide Seiten.

Was haben Sie empfunden bei der Nachricht vom Tod von Loki Schmidt?

Wolfgang Schäuble: Mitgefühl mit Helmut Schmidt, der jetzt die Liebe seines Lebens verloren hat. Großen Respekt vor Loki Schmidt, die eine wirklich bewundernswerte Frau war. Sie hat sich nicht nach der Rolle der Frau des Bundeskanzlers gedrängt. Wir hatten über Jahrzehnte ein Verhältnis von persönlicher Sympathie. Als ich gelesen habe, dass sie sanft eingeschlafen sei, habe ich gedacht: Vielleicht ist auch eine Gnade dabei.

Das Interview führten MICHAEL BACKHAUS, ROMAN EICHINGER und WALTER MAYER

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