Erinnerung und Gegenwart: Luther im 21. Jahrhundert



Rede von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Luther-Dekade in Wittenberg

(Es gilt das gesprochene Wort.)

An die Tür dieser Kirche, so will es die Überlieferung, schlug Martin Luther am 30.10.1517 seine Thesen zur theologischen Diskussion über den Ablasshandel. Dieses Ereignis gilt als Beginn der Reformation; im Jahr 2017, am Ende dieser Lutherdekade, wird sein 500. Jahrestag anstehen.

Bis es so weit ist, wird noch eine lange Zeit vergehen. Wie wollen wir sie nutzen? Woran wollen wir uns während dieser Jahre erinnern? Welche neuen Anregungen können davon ausgehen?

Jubiläen sind eine nicht ungefährliche Sache, sie verleiten, wenn ich das so sagen darf, zum Jubeln. Aber der deutsche Protestantismus hat gegenwärtig ebenso wie der Katholizismus nicht nur Grund zum Jubeln. Beide stehen vor großen Herausforderungen, und sie werden viele davon eher gemeinsam ? und im offenen Gespräch mit den anderen großen Religionen ? bewältigen können.

Kirchengemeinden schrumpfen und altern, und die kulturelle Stellung der Kirche in der Gesellschaft ist nicht unumstritten. Ich bin kein Defätist. Ich glaube nicht, dass diese Entwicklung unumkehrbar ist, und ich meine als Protestant und als Politiker, dass sich am bestehenden Trend etwas ändern sollte. Ein starker, selbstbewusster Glaube, ein starker, selbstbewusster Protestantismus können für unsere Gesellschaft sehr wichtig sein. Von allein aber wird auch eine ganze Lutherdekade das nicht bewirken.

Hinzu kommt der eher ernüchternde Blick auf vergangene deutsche Lutherjubiläen. Hartmut Lehmann hat vor einigen Wochen in der FAZ darüber geschrieben. Luther ist seit dem 17. Jahrhundert je nach Lage für ganz unterschiedliche Anliegen in Anspruch genommen worden, insbesondere im 19. Jahrhundert und bis 1945 für die Sache der deutschen Nation, ihre Selbstbehauptung im Krieg oder gar ihre völkische Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt. Lehmann, der selber Protestant ist, fordert deshalb, dass die Lutherdekade sich gerade den schwierigen Seiten des Reformators widmen sollte: seiner oft polemischen Abgrenzung gegen Katholiken, andere protestantische Gruppen ? Luther nennt sie ?Schwärmer? ?, Juden, ?Türken? ? das heißt heute: Muslime ? und Humanisten.

Ich finde, er hat Recht, dass wir die problematischen Aspekte der Reformation nicht ausblenden dürfen. Aber das ist nur ein Teil der Aufgabe, die ich einmal so formulieren möchte: Für den Erfolg der Lutherdekade wird alles darauf ankommen, dass wir die Erinnerung in den Horizont der Herausforderungen stellen, vor denen Christen und besonders Protestanten heute stehen. Nutzen wir also das Jubiläum um darüber nachzudenken, was die Leistungen und die Fehler Luthers und seiner Mitstreiter für den Protestantismus im 21. Jahrhundert bedeuten können.

Was heißt das konkret? Zunächst einmal: Ich würde mir wünschen, dass wir uns der konfessionellen Spaltung der Christenheit zuwenden. Wir sollten in der Luther-Dekade eine Chance zur Vertiefung des Dialogs zwischen den Kirchen sehen und die ökumenische Annäherung suchen. Die Dekade sollte Gelegenheit geben, sowohl über die historischen Gründe der Spaltung nachzudenken als auch die großen heutigen Gemeinsamkeiten der Kirchen herauszuarbeiten.

Ein zweiter Punkt, der mich als Politiker besonders interessiert, ist die Rolle und die Bedeutung des Protestantismus für unsere politische Kultur. Wir leben in einer Zeit, in der die Frage nach dem Verhältnis von Religion, Kultur und Politik wieder hoch aktuell geworden ist. Noch vor einigen Jahren hatten viele gemeint, die Religion hätte im 21. Jahrhundert nur eine marginale Zukunft für Einzelne und würde ohne große gesellschaftliche Relevanz sein. Das sagen heute nur noch wenige.

Umso mehr ist uns die Zwiespältigkeit dieser Entwicklung bewusst. Religion kann Menschen im Guten motivieren, sie kann eine Quelle von politischem und bürgerschaftlichem Engagement sein, das sich den Gedanken von Freiheit, Demokratie und Toleranz verpflichtet weiß. Sie kann aber ebenso zum Ursprung genau entgegen gesetzter Tendenzen und Handlungen werden, sie kann Intoleranz und Diskriminierung rechtfertigen und zum Ausbruch politischer, sogar militärischer Auseinandersetzungen beitragen. Religion kann Menschen verbinden und zusammenführen, sie kann sie aber auch trennen und zu Gegnern machen.

Das trifft nun nicht nur auf fremde Religionen zu, sondern genau dieselbe Zwiespältigkeit finden wir auch in der Reformation und in der Geschichte des deutschen Protestantismus. Denkt man an Luthers mutige Worte auf dem Reichstag zu Worms, die geradezu zum Symbol von Gewissensfreiheit geworden sind? Hat man seine mahnenden, Missstände anprangernden Worte an die Fürsten im Ohr? Oder erinnert man sich an seine harten, kompromisslosen Worte im Bauernkrieg und an seine maßlosen Ausfälle gegen die Juden? Und diese Ambivalenz setzt sich fort: Dem sozialen Engagement des Protestantismus seit dem 19. Jahrhundert steht die lutherische Kriegstheologie des Ersten Weltkriegs gegenüber. Das 20. Jahrhundert hat im Protestantismus Rechtfertigungen der deutschen Diktaturen ebenso hervorgebracht wie den Einsatz für Freiheit und Menschenrechte.

Kaum jemand wird bestreiten, dass der schwierige Weg, auf dem wir Deutschen zur Anerkennung von Demokratie und Pluralismus gefunden haben, auch mit unserem lutherischen Erbe zu tun hat. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist es den evangelischen Christen in ihrer Mehrheit möglich gewesen, diese Werte nicht nur zähneknirschend zu akzeptieren, sondern sie als in Übereinstimmung mit den Grundanliegen unserer Religion zu bejahen. Zwar hatte der Protestantismus schon am Ende des 19. Jahrhunderts versucht, den christlichen Glauben der Reformation mit der aus der Aufklärung hervorgegangenen Kultur der Vernunft im Sinne einer religiös begründeten Humanität in Einklang zu bringen. Aber der feste Bezugspunkt blieb zunächst die Monarchie und nicht die Demokratie. Das sollte sich in den Jahren der Weimarer Republik und der Nazizeit bitter bemerkbar machen ? bei Weitem nicht nur bei den Deutschen Christen.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass es die calvinistisch geprägten Staaten sind, in den Niederlanden, Schottland oder Neuengland als puritanischem Vorposten in den Vereinigten Staaten, in denen dies anders aussah. Dort stand die selbst verwaltete Gemeinde im Vordergrund, die in Glaubensfragen keinen Bischof oder andere Lehrautoritäten bemühen mochte. Eigenverantwortlich gestalteten sie ihr Gemeinwesen und trugen so entscheidend zu der Entwicklung einer politischen Kultur bei, die noch heute die Vereinigten Staaten und deren Verfassung ganz anders prägt als das bei uns jedenfalls für lange Zeit der Fall gewesen ist.

Es gibt natürlich prominente Gegenbeispiele: Da fällt mir zuerst meine badische Heimat ein: Dort wurden 23 Geistliche für ihr politisches Engagement durch staatliche Gerichte gnadenlos mit Haftstrafen belegt und verloren ihre kirchlichen Ämter. Dies fand statt nicht etwa zu Zeiten des Nationalsozialismus, sondern in der Revolutionszeit von 1848/49. Das Großherzogtum Baden war damals Zentrum von Demokratie und republikanischer Einstellung, geprägt durch einen Geist, der seine Wurzeln im Protestantismus hat und bis heute spürbar ist.

Dieser liberale, politisch aktive Protestantismus war keine Massenbewegung, konnte aber doch seine Spuren bleibend hinterlassen. An ihn konnte die evangelische Kirche nach dem Kirchenkampf anknüpfen und protestantisches Profil gewinnen mit Theologen und vor allem auch Laien, die sich als Protestanten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft engagierten. Daher muss das Bild von lutherischer Orthodoxie und staatstreuem, obrigkeitsfixiertem Protestantismus zumindest ergänzt werden. Evangelischer Glaube zeigte mit der Rezeption der Aufklärung auch immer ein offenes, kritisches, dem Humanum zugewandtes Gesicht. Der Protestantismus hat stets viele Facetten gehabt, sich immer wieder selbst reformiert. Er steht nicht nur für Thron und Altar, sondern eben auch für obrigkeitskritischen Protest.

In diese Tradition lässt sich dann auch die Rolle, die die evangelischen Kirchen im Herbst 1989 spielten ? ob hier in Wittenberg, in Erfurt, in Schwerin und auch in Leipzig ? einordnen. Trotz mancher Irrwege auch in dieser Phase seiner Geschichte bildete der Protestantismus letztlich eine, wenn nicht die entscheidende Keimzelle des Protestes: Mutige Pfarrer boten Räume, schufen Öffentlichkeit, Orte, wo sich Menschen sammeln konnte, Kirchenferne wie Kirchennahe, um ihren Überzeugungen als Christ und/oder Bürger Ausdruck zu verleihen. Hier in Wittenberg kann man an das kirchliche Forschungsheim erinnern, wo es eine für DDR-Verhältnisse singuläre Möglichkeit von Diskussion und Meinungsbildung über ökologische Themen gab. Gerade auch unter Bezug auf Luther ist hier in den 80er Jahren ? lange vor dem Herbst 89 ? Demokratie und Meinungsvielfalt eingefordert worden.

Wenn uns im Brief des Paulus an die Galater gesagt ist, dass Christus zur Freiheit befreit, so begründet dies auch christliche Verantwortung für das Streben nach politischer Freiheit und einer demokratischen Gesellschaft, die Freiheit garantiert. So besteht der protestantische Imperativ nicht nur in Innerlichkeit und Obrigkeit, sondern in der Öffnung hin zur Welt. Der zur politischen Freiheit befreite Christenmensch nutzt die ihm gegebenen Möglichkeiten im Interesse für die Freiheit, die Rechte und das Wohl seiner Mitmenschen.

Wenn wir an diese widersprüchlichen Tendenzen in unserer eigenen protestantischen Geschichte erinnern, kann uns das vielleicht dabei helfen, mit Augenmaß unsere religiös pluraler gewordene Welt zu betrachten. Die große Herausforderung für Deutschland ? aber nicht nur für Deutschland ? besteht heute in der Integration anderer Religionen und speziell des Islams in unsere demokratische Ordnung. Dafür hat das Bundesministerium des Inneren die Deutsche Islamkonferenz initiiert. In wichtigen Fragen wie dem islamischen Religionsunterricht gibt es bereits gemeinsame Positionen. Derzeit kann aber noch niemand eindeutig sagen, was am Ende dieses Prozesses stehen wird.

Wenn aber manche sagen: Islam und Demokratie passen überhaupt nicht zusammen, dann denke ich, kann der Blick auf unsere eigene widersprüchliche Geschichte lehrreich sein. Es ist eben nicht einfach so, dass das Reformationschristentum, Demokratie und Menschenrechte seit jeher Hand in Hand gegangen sind. Dass das heute weitgehend so ist, ist Ausdruck eines langen Lernprozesses, und diesen sollten wir Menschen, die erst seit relativ kurzem bei uns leben, auch zugestehen ? obgleich klar ist, dass er in diesem Fall nicht Jahrhunderte dauern darf.

Wir sollten die Luther-Dekade auch als eine Chance sehen, uns auf unseren eigenen Lernprozess zu besinnen und ihn mit den Muslimen in unserem Land zu diskutieren. Dafür sollten wir Gelegenheiten schaffen ? im Bewusstsein, dass sich Geschichte nicht wiederholt und dass uns die Bevormundung anderer nicht zusteht.

Integration des Islam in unsere Freiheitsordnung bedeutet einerseits, dass die Mehrheitsgesellschaft auf den Glauben der hier lebenden Muslime Rücksicht nimmt und offen für ihre Anliegen ist. Wir müssen den Muslimen die Religionsfreiheit, die unser Grundgesetz garantiert, auch praktisch ermöglichen. Den islamischen Religionsunterricht habe ich bereits genannt.

Umgekehrt müssen die Muslime in unserem Land nicht nur die deutsche Rechtsordnung akzeptieren, sondern auch die christliche Glaubensprägung der Mehrheit respektieren. Das Christentum hat in unserem Kulturkreis eine herausgehobene Bedeutung ? als Quelle unserer Identität und als Fundament unserer Werte. Unsere Kultur und Gesellschaft, unsere Art zu leben sind entscheidend durch das christlich-jüdische Erbe geprägt.

Es gibt große und wichtige Aufgaben, vor denen der Protestantismus heute steht, und ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen, als Politiker, aber auch als Glied der evangelischen Kirche, dass ich mir wünsche, dass der Protestantismus sich stärker in die gesellschaftliche und politische Diskussion einbringt. Dazu ist es wichtig, dass die Erinnerung an Luther und die Reformation nicht zu einer protestantischen Nabelschau wird, sondern den Blick öffnet auf die Möglichkeiten und Herausforderungen protestantischer Existenz in der Welt des 21. Jahrhunderts.

Das schließt die Erinnerung nicht aus, sondern ein. An Leben und Wirken Luthers lassen sich viele Einsichten gewinnen, die von bleibender Bedeutung in unserer heutigen Welt sind. Seine Überzeugung, dass Menschen Gott unmittelbar in ihrem Gewissen verpflichtet sind, schützt vor der Hybris der Allmacht, der wir so leicht verfallen. Wenn wir die problematischen Seiten jener Geschichte bei dieser Erinnerung nicht ausblenden, zeigt sie die Aufgabe: jetzt und in Zukunft für eine Ausprägung von Religion einzutreten, die Freiheit, Toleranz, Recht und das menschliche Zusammenleben fördert.