„Eine Mehrheit für Merz wäre das Beste für das Land“



FAZ, Interview vom 05.12.2018

Herr Bundestagspräsident, waren Sie froh, als Angela Merkel angekündigt hat, sie werde nicht mehr für den Parteivorsitz kandidieren?

Nein. Ich war überrascht von ihrer Erklärung im Parteipräsidium am Montag nach der hessischen Landtagswahl. Aber es war eine sehr schlüssige Erklärung, höchst eindrucksvoll. Sie hat in einer vorbildlichen Weise zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung getroffen. Zwar ist sie — so wie ich übrigens auch — weiterhin der Meinung, dass Kanzlerschaft und Parteivorsitz grundsätzlich in eine Hand gehören. Doch hält sie es in dem konkreten Fall jetzt für richtig, anders zu entscheiden. Das alles hat eine befreiende Wirkung für die CDU.

Was wäre passiert, wenn Merkel die Entscheidung nicht getroffen hätte?

Es hätte Diskussionen gegeben. Die Generalsekretärin der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, die ja selbst für den Vorsitz kandidiert, hat von einer „bleiernen Zeit“ gesprochen, in der wir uns befänden. Die Mitte wird schwächer, die Ränder werden immer stärker. Das tut unserer Demokratie nicht gut. Nun entscheidet die Partei in einem offenen Verfahren über einen neuen Vorsitzenden. Das wiederum tut der Demokratie gut — unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht.

Bisher ist der Nutzen gering. Die CDU hat seit Merkels Entscheidung zwei Prozentpunkte in den Umfragen zugelegt. Wäre ein Mitgliederentscheid besser gewesen?

Nein. Erstens geht es nicht um kurzfristige Effekte, sondern darum, dass wir den Trend für die Union wieder nach oben drehen. Zweitens: Gerade in Zeiten, in denen es vor allem über die sozialen Netzwerke große Manipulationen gibt, hat die repräsentative Demokratie enorme Vorteile. Alle Parteimitglieder können sich auf diese Weise ein Bild machen, können mitdiskutieren, und so wissen auch alle Delegierten des Parteitags, wie die Stimmung in der Partei ist, deren neue Vorsitzende oder neuen Vorsitzenden sie am Freitag wählen.

Was hat die Zeit bleiern gemacht?

Die Amtszeit der Kanzlerin und Parteivorsitzenden Angela Merkel war und ist außerordentlich erfolgreich. Daran kann es keinen Zweifel geben. Wir haben wichtige gesellschaftliche Veränderungen beeinflusst und gesteuert, weshalb wir besser als andere Parteien dastehen. Aber dass wir nach der jüngsten Bundestagswahl so lange für eine Regierungsbildung gebraucht haben und nichts anderes als wieder eine große Koalition hinbekommen haben, war lähmend. Dann kam der lange Streit über die Auswirkungen des Flüchtlingszustroms hinzu, wobei der Eindruck entstand, dass es am Ende nur noch ums Rechthaben ging. Gerade in einer Zeit, in der ein handlungsfähiges Deutschland für Europa so wichtig war, fehlte die Handlungsfähigkeit.

Noch einmal: Was hat Angela Merkel falsch gemacht?

Diese rückwärtsgewandte Diskussion bringt uns überhaupt nichts. Wie es auch schon bei Helmut Kohl war, so werden selbst sehr erfolgreiche Kanzlerschaften nach langer Zeit irgendwann zäh.

Sie haben Angela Merkel Ende des Jahres 2016 gesagt, sie müsse noch einmal als Bundeskanzlerin antreten bei der Wahl 2017.

Das stimmt. Bevor Angela Merkel 2016 ihre Entscheidung, noch einmal zu kandidieren, bekanntgegeben hat, hat sie mit mir darüber gesprochen. Ich habe sie in ihrer Entscheidung bestärkt. In der damaligen Situation, ein Dreivierteljahr vor der Bundestagswahl, gab es keine Alternative, jedenfalls keine bessere. Eine Alternative gibt es ja immer, deswegen ist auch das Wort „alternativlos“ zu Recht diskreditiert. Wir haben allerdings auch darüber gesprochen, dass ihre vierte Kandidatur als Kanzlerin nicht ihrer ursprünglichen Lebensplanung entsprach.

Und jetzt wird was gebraucht?

Wir brauchen eine stärkere Profilierung der CDU, und wir brauchen Einigkeit mit der CSU. Das könnte übrigens auch der SPD helfen, ihre Schwierigkeiten besser in den Griff zu bekommen. Auch wenn natürlich die SPD nicht mein Spezialgebiet ist, so kann ich doch sagen, dass es der Demokratie guttut, wenn es zwei stabile Volksparteien gibt. Aber jetzt geht es erst mal um die CDU.

Und für die Profilierung der CDU wäre ein Vorsitzender Merz am besten?

Friedrich Merz ist ein Mann, der mit klaren Konzepten klare Signale sendet, der den Mut hat, nicht nur das Ende einer Diskussion abzuwarten, sondern sie stattdessen zu gestalten. Das stößt auch mal auf Widerstand, aber das tut der politischen Debatte gut.

Sie loben die Fähigkeit des Kandidaten Merz, klare Positionen zu formulieren. Mit seinen Äußerungen zum Asylrecht hat er aber vor allem Entrüstung erzeugt.

Da ist Friedrich Merz ein Stück missverstanden worden. Er hat sich im Blick auf eine europäische Harmonisierung geäußert, und da hat er ja nicht unrecht. Wir können auf vielen Gebieten europäische Lösungen nur zustande bringen, wenn wir nicht darauf bestehen, dass bei uns gleichzeitig alles bleibt, wie es ist. Das gilt auch für den Parlamentsvorbehalt im Blick auf eine europäische Armee. Es gilt auch für europäische Richtlinien für Rüstungsexporte.

Merz‘ Einkommen ist oft Thema. Finden Sie, dass ein Mann, der im Jahr eine Million bekommt, ein Angehöriger der oberen Mittelschicht ist, wie Merz es über sich sagt?

Er ist beruflich erfolgreich. Mir wäre weniger wohl, wenn er keinen Erfolg im Beruf hätte.

In den Umfragen liegt Merz derzeit hinter Frau Kramp-Karrenbauer. Werben Sie deswegen jetzt für seine Wahl?

Ich werbe für eine stärkere Profilierung der CDU. Wir müssen, zusammen mit der CSU, viel stärker von den Rändern zur Mitte hin integrieren und der Union als Volkspartei wieder mehr Profil geben. Wir haben im nächsten Jahr neben den Wahlen zum Europäischen Parlament Landtagswahlen in Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen, außerdem in neun Ländern Kommunalwahlen. Dieses Jahr muss eine Wende bringen, wir müssen die Wahlen gewinnen, auch gegen die Kräfte rechts von uns.

Wann ist Ihnen der Gedanke gekommen, dass Friedrich Merz, den Sie ja schon aus dem vorigen Jahrhundert kennen und damals schon gefördert haben, jetzt der richtige CDU-Vorsitzende wäre?

Der Begriff voriges Jahrhundert klingt in diesem Zusammenhang ein bisschen komisch. Was wollen Sie denn damit sagen? Sie stammen schließlich auch aus dem vorigen Jahrhundert.

Mit dem Begriff voriges Jahrhundert wollen wir nichts anderes sagen als voriges Jahrhundert. Und: Natürlich stammen auch wir aus dem vorigen Jahrhundert. Also, gemeint ist, dass Sie Merz aus den 1990er Jahren kennen.

Ich bin mit Friedrich Merz seit langem persönlich befreundet. Nicht viele meiner persönlichen Freunde sind politisch aktiv, aber Merz ist es. Daher wusste ich immer, dass er ein politisch denkender und handelnder Mensch ist und seine Befähigung zu politischen Ämtern auch erhalten blieb, als er sich entschloss, etwas anderes zu machen und als Anwalt in die Wirtschaft zu gehen. Es wird ja ständig gefordert, dass unsere beruflichen Werdegänge und damit auch die von Politikern durchlässiger sein sollen. Dafür ist er ein gutes Beispiel. Es müssen ja nun nicht alle so machen wie ich, mit 30 Jahren in den Bundestag einziehen und mit 76 immer noch drin sein. Dass Merz ein anständiger Kerl ist, habe ich immer gewusst. Er ist ein überzeugter Europäer, ein verlässlicher Streiter für die atlantische Partnerschaft und jemand, der die soziale Marktwirtschaft hochhält. Für die Profilierung der CDU ist es sehr wichtig, jemanden mit einem so klaren Kompass an der Spitze zu haben. Das spricht für Friedrich Merz.

Spricht das gegen die beiden anderen Kandidaten?

Nein. Wir haben drei außergewöhnlich gute Kandidaten für die Nachfolge von Angela Merkel an der CDU-Spitze.

Die auch alle gleichermaßen gut mit der Bundeskanzlerin Merkel zusammenarbeiten könnten?

Ich mache mir überhaupt keine Sorgen um die Stabilität der Bundesregierung. Jeder der drei Bewerber weiß, dass er im Falle seiner Wahl eine Verantwortung haben würde, die größer ist als sein oder ihr jeweiliges Ego. Diese Regierung ist gewählt, und zwar für noch drei Jahre. Aber es kann ja durchaus um Lösungen gerungen werden, und dabei hat nicht nur die SPD das Recht, eigene Vorschläge zu machen.

Was meinen Sie beispielsweise?

Die Rentenpolitik etwa. Friedrich Merz kann man nun nicht vorwerfen, dass er die gesetzliche Rentenversicherung abschaffen wollte. Aber dass es daneben weiterer Absicherung bedarf, etwa einer breiteren Beteiligung der Bevölkerung am Produktivvermögen, beispielsweise durch Aktien, das ist doch ein vernünftiger Vorschlag von Merz.

Würden kontroverse Debatten nicht die ohnehin geringe Stabilität dieser fragilen Koalition wieder gefährden?

Zur Ehrenrettung der SPD sei festgehalten, dass bislang die Schwierigkeiten dieser Regierung überwiegend von der Union verursacht worden sind — bei allem Respekt vor dem Juso-Vorsitzenden Kühnert. Wir können aber doch das politische Denken und den Diskurs über politische Lösungen nicht mit der Unterschrift unter einen Koalitionsvertrag beenden wollen in einer Zeit, die sich so rasch verändert. Beide Partner sollten da ran arbeiten, Konzepte und unterschiedliche ordnungspolitische Ansätze weiterzuentwickeln. Ich habe ja selbst früh gesagt, dass sich im Blick auf die demographische Entwicklung bei steigender Lebenserwartung die Strukturen der Altersvorsorge ändern müssen.

2002 hat Friedrich Merz den Vorsitz der Unionsfraktion im Bundestag aufgeben müssen …

Er hat ihn gar nicht aufgegeben! Nach jeder Bundestagswahl wird ein neuer Fraktionsvorsitzender gewählt. Das ist ganz normal.

Na schön: Dann hat er den Anspruch aufgegeben, das Amt, das er bis dahin innehatte, wieder zu erlangen.

Die Vorsitzenden von CDU und CSU, Angela Merkel und Edmund Stoiber, haben damals eine andere Kandidatin vorgeschlagen. Das war bekanntlich Frau Merkel. Ich weiß doch, wie es war, ich war dabei. Ich saß damals 2002, am Abend der Bundestagswahl, mit Merz und dessen Frau in einem Berliner Restaurant und habe ihm dringend abgeraten, gegen das Votum der beiden Parteivorsitzenden für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren.

Ralph Brinkhaus hat sich vor einigen Monaten auch nicht davon abschrecken lassen, dass die Vorsitzenden von CDU und CSU, Angela Merkel und Horst Seehofer, jemanden anderen für den Fraktionsvorsitz vorgeschlagen haben. Er ist angetreten und hat gewonnen. Das hat Merz sich damals nicht getraut.

Dann war mein Ratschlag damals vielleicht falsch. Aber möglicherweise war auch die Situation im Herbst 2018 eine andere als die nach der Bundestagswahl 2002.

Ist Friedrich Merz ein harter politischer Kämpfer, wie man es sein muss, um die CDU und vielleicht irgendwann mal das Land zu führen?

Ich habe ihn so kennengelernt. Jetzt geht es aber nicht um die Führung des Landes — wir haben ja eine Bundeskanzlerin —, sondern um die Partei.

Dann bleiben wir bei der Partei.

Die habe ich auch mal für eine Weile geführt und habe mir damals eine hervorragende Generalsekretärin ausgesucht. Das war Angela Merkel.

Jetzt gibt es Berichte, Friedrich Merz sei damals Ihre erste Wahl gewesen, habe aber abgesagt?

Diese Berichte sind eine reine Erfindung. Ich wollte eine Frau als Generalsekretärin. Und ich bin übrigens auch derjenige, der Helmut Kohl 1994 — das war auch im vorigen Jahrhundert, Kohl war ja Bundeskanzler im vorigen Jahrhundert — darin bestärkt hat, Angela Merkel zur Umweltministerin zu machen. Ich habe ihm gesagt, die kann das, die hat auch die notwendige Durchsetzungskraft und Stärke. Ich habe früh gesagt, zu Zeiten, in denen Frau Merkel noch Generalsekretärin der CDU war, dass sie wohl die erste Frau sein würde, die Bundeskanzlerin wird.

Das provoziert natürlich die Frage, wer der oder die nächste Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union wird.

Das weiß ich nicht, das ist offen. Die Entscheidung liegt in den Händen der Delegierten. Es gibt drei sehr gute Kandidaten. Aber ich habe eine feste Meinung: Es wäre das Beste für das Land, wenn Friedrich Merz eine Mehrheit auf dem Parteitag erhielte. Das würde es erleichtern, wieder zu einer Integration der politischen Kräfte zur Mitte hin zu kommen und unser System zu stabilisieren. Die politischen Ränder würden wieder schwächer.

Aber Ihre Überzeugung, dass die Regierung auch mit einem neuen CDU-Vorsitzenden stabil bleiben werde, erfüllt Merz von den Voraussetzungen her weniger als die beiden Mitbewerber?

Warum?

Jens Spahn ist Minister in dieser Regierung, Annegret Kramp-Karrenbauer hat den Koalitionsvertrag mit verhandelt und hat lange Regierungserfahrung. Friedrich Merz kommt von außen dazu.

Wenn das „Weiter so“ das Allerwichtigste bei dieser Vorsitzendenwahl ist, dann haben Sie recht, dann wäre Friedrich Merz der falsche Kandidat. Wenn es ‚aber nicht nur um die Erhaltung des Status quo geht, sondern darum, zu verändern, und gleichzeitig darum, die Stabilität nicht zu schwächen, sondern zu stärken, dann hat er unbestreitbare Vorzüge. Was ich aus Ihrer Frage heraushöre, das unterstellt sowohl Angela Merkel als auch Friedrich Merz, dass sie nicht in der Lage wären, als Kanzlerin und Parteivorsitzender zusammenzuarbeiten. Das wären sie aber ganz sicher.

Spielt bei Ihrem Votum für Merz eigentlich auch eine Rolle, dass es ganz gut wäre, wenn mal wieder ein Mann die Partei führt?

Es kann ein Mann sein oder eine Frau.

Also ist es egal?

Es ist irrelevant. Und es ist unter Angela Merkels Kanzlerschaft — und das ist ja nichts Geringes — manifest geworden, dass es irrelevant ist.

Hat sich Jens Spahn bei Ihnen beschwert? Den haben Sie in Ihrer Zeit als Finanzminister sehr gefördert, nun plädieren Sie für Merz.

Nein. Jens Spahn ist eine der herausragenden politischen Begabungen, die die CDU hat. Und er hat jetzt einen eindrucksvollen Wahlkampf gemacht, soweit ich das beurteilen kann. Wir haben, als er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium war, vorzüglich zusammengearbeitet. Er hat mich oft um Rat gefragt, und ich habe ihm immer meinen bestmöglichen Rat gegeben. Aber nein, angerufen hat er mich nicht — er hat auch keinen Grund, sich zu beklagen. Vielleicht sieht er momentan seine Chancen als geringer an, nachdem Friedrich Merz seine Kandidatur angemeldet hat. Aber das hat doch für die Zukunft nichts zu bedeuten.

Wenn Merz der neue Parteivorsitzende würde, gälte dann auch für ihn die Regel, dass der CDU-Vorsitzende stets den Anspruch erheben kann, sich um das Kanzleramt zu bewerben?

Der Vorsitzende hat immer einen Anspruch darauf. Ob dieser eingelöst wird, entscheiden die Wähler bei einer Bundestagswahl. Und bei der vorigen Bundestagswahl im September 2017 waren die Wählerinnen und Wähler eindeutig der Ansicht, dass Angela Merkel die richtige Kanzlerin ist. Und ich habe diese Meinung übrigens geteilt und damals auch so gewählt, wenn ich das hier verraten darf.

Die Fragen stellten Johannes Leithäuser und Eckart Lohse.