„Die Wiedervereinigung haben die Menschen in der DDR gemacht! Sie sind die Helden der Einheit, sonst niemand!“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der SUPERillu

2009 ist nicht nur Krisenjahr, sondern auch Jubiläumsjahr: 20 Jahre Mauerfall 1989 – haben wir was zu feiern, Herr Schäuble?
Aber ja. Das Ende von Mauer und Stacheldraht, das Ende der sozialistischen Diktatur ist für die allermeistten Menschen auch heute ein wirklicher Grund zu feiern. Dass man mit dem Hinweis auf das Elend der Vergangenheit nicht alle Probleme von heute wegdiskutieren kann, ist eine ganz andere Frage. Genauso, wie die unbestreitbar vorhandenen Ungleichheiten in unserem Land kein Argument dafür sind, dass früher alles besser war.

Wirklich ein Grund zu feiern für alle Deutschen – auch für die Westdeutschen, zum Beispiel in ihrer badischen Heimat, der Ortenau?
Ja, auch die Leute bei mir in der Ortenau freuen sich – schon allein, weil die meisten angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft überzeugte Europäer sind und genau wissen, dass die Entwicklung zum Zusammenwachsen Europas ohne die Überwindung der deutschen Teilung undenkbar gewesen wäre. Um es in einem Bild zu sagen: Die Teilung war eine schwelende Wunde für das deutsche Volk, auch wenn das nicht jedem immer so bewusst war. Diese Wunde ist nun verheilt, auch wenn die Narbe manchmal noch etwas juckt.

Man fragt sich aber schon, ob die Westdeutschen wirklich wissen, was sie durch die Einheit gewonnen haben…
Sie haben große Teile Deutschlands zurückgewonnen, ohne die Deutschland höchstens die Hälfte dessen war, was es einst ausgemacht hatte: Deutsche Geschichte kann man ohne Sachsen und Preußen nicht begreifen. Und was wäre der Protestantismus ohne Wittenberg und Wartburg? Oder Berlin – unsere Hauptstadt, auf die wir alle stolz sein können und die Viele gerne besuchen, auch die Menschen aus der Ortenau. Und was wäre der deutsche Fußball ohne Ballack und all‘ die anderen ostdeutschen Talente?

Haben Sie persönlich Anfang 1989 geglaubt, Sie würden die deutsche Einheit noch erleben?
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit dem US-Botschafter Vernon Walters, als er im April 1989 sein Amt in Bonn antrat. Ich war damals frisch in meinem Amt als Innenminister. Und Walters sagte zu mir: „In meiner Amtszeit als Botschafter kommt die Wiedervereinigung.“ Ich fragte ihn daraufhin: „Wie lange ist man bei Ihnen denn auf einem solchen Posten?“ Seine Antwort: „Drei Jahre.“ Darauf entgegnete ich: „Bis vor kurzem hätte ich bezweifelt, dass die Wiedervereinigung noch in diesem Jahrhundert passiert. Aber da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher.“ Später hat Walters übrigens in seinem Buch „Die Vereinigung war voraussehbar“ geschrieben, ich hätte von allen seinen Gesprächspartnern in Deutschland die optimistischste Prognose abgegeben (lacht). Aber im Ernst: Ich habe immer auf die Wiedervereinigung gehofft, war aber zugleich überzeugt, dass diese Frage in Moskau entschieden wird – bis Michail Gorbatschow 1989 sagte, der Schlüssel zur Einheit liege bei den Deutschen.

Manche sagen, die Regierung Kohl habe sich in den 80er Jahren mit der Existenz der DDR faktisch abgefunden – Stichwort Milliarden-Kredite, Stichwort Honecker-Besuch 1987…
Das Gegenteil ist der Fall. Als Chef des Kanzleramtes war ich bis April 1989 für die Beziehungen zur DDR verantwortlich und ich wusste: Durch die Politik der Regierung Kohl gegenüber Honecker und der SED hatten wir seit 1985 eine ungeheure Dynamik im innerdeutschen Reiseverkehr erzielt, die man ein paar Jahre zuvor noch für unmöglich gehalten hatte: Es kamen bis zu sieben Millionen Besucher aus der DDR in den Westen – und zwar nicht nur Rentner, sondern zunehmend auch Jüngere. Die absehbare, wenn auch nicht öffentlich als Absicht postulierte Folge: Auf die Freude über die West-Reise folgte nach der Rückkehr in der DDR schnell die wachsende Unzufriedenheit mit den dortigen Verhältnissen. Ein Effekt, der dem SED-Regime übrigens sehr bewusst war. Ich weiß noch, wie Schalck-Golodkowski mich bei informellen Gesprächen über neue Kredite anfrotzelte: „Wegen Eurem Konsum-Terror werden unsere Leute immer unzufriedener, deshalb müssen wir ihnen mehr bieten, also wir brauchen wir mehr Valuta von Euch.“ Insgesamt kann man sagen: Als Folge unserer politischen Bemühungen in den 80-er Jahren hat der Zusammenhalt der Nation wieder stark zugenommen. Damit haben wir das Tor zur Wiedervereinigung offen gehalten – in der Hoffnung, dass die Menschen in der DDR eines Tages selber darüber entscheiden könnten.

Es gab ja über all‘ die Jahrzehnte ein Ministerium für innerdeutsche Beziehungen – aber niemand hatte in Bonn einen Plan für die Wiedervereinigung in der Schublade…
Wozu auch ein Plan? Damit am Ende die Politiker glauben, sie hätten die Wiedervereinigung gemacht? Haben sie nicht! Die Wiedervereinigung haben die Menschen in der DDR gemacht! Sie sind die Helden der Einheit, sonst niemand! Planbar war das alles nicht. Der Verdienst der damaligen Bundesregierung bestand allerdings darin, zügig und besonnen zu reagieren, innerdeutsche Solidarität zu organisieren und den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass ein vereintes Deutschland keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung darstellt.

Gab es im Herbst 1989 in Bonn eigentlich einen Plan B für den Fall, dass das SED-Regime die Proteste blutig niedergeschlagen hätte?
Den Plan B können Sie in den Geschichtsbüchern lesen – 1953 Ost-Berlin, 1956 Budapest, 1968 Prag…Was hätten wir denn tun sollen? Die Nachkriegsordnung wäre nicht um den Preis eines dritten Weltkriegs zu ändern gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Mut, vor allem aber auch die Selbstdisziplin der Montagsdemonstranten umso bewundernswerter: Durch ihre konsequente Gewaltlosigkeit haben sie dem SED-Regime jeden Vorwand verweigert, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen.

In Ihren Erinnerungen an die Jahre 1989/1990 schreiben Sie von der „unvollendeten Revolution“. Was meinen Sie damit?
Es war eine unvollendete Revolution, weil man nach dem Fall der Mauer recht bald den Runden Tisch gemacht hat, an dem die SED mit dabei war. Und Modrow blieb bis zur ersten freien Wahl am 18. März 1990 Ministerpräsident. Man hat also gemeinsam mit denjenigen, gegen die sich diese Revolution gerichtet hat, den Fortgang der Dinge gestaltet. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Dieses Vorgehen war alternativlos, und ich finde es nach wie vor richtig. Eine Revolution wie aus dem Lehrbuch mit einer blutigen Phase wäre in Deutschland undenkbar gewesen.

Sie haben im Frühjahr und Sommer 1990 zusammen mit Günther Krause den Einigungsvertrag ausgehandelt. War das rückblickend das Wichtigste, das Sie in Ihrem politischen Leben geleistet haben?
Für jemanden, der in der Nachkriegszeit politisch sozialisiert wurde, war die Chance, die deutsche Einheit an maßgeblicher Stelle zu gestalten, etwas Einmaliges. Der Grundgedanke, die rechtlichen Bedingungen der Einheit vor dem Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes in einem Vertrag zu regeln, statt dies alles hinterher dem gesamtdeutschen Gesetzgeber zu überlassen, war meine Idee. So verkehrt war sie wohl nicht (lacht).

Haben Sie heute noch Kontakt zu Günther Krause?
Leider nur selten, wir schreiben uns gelegentlich zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Was mit Günther Krause später geschehen ist, ist eine unglaublich tragische Entwicklung, über die ich mir kein Urteil erlauben mag. Für mich bleibt er ein befähigter Politiker, der sich um unser vereintes Deutschland bleibende Verdienste erworben hat.

Sie haben damals zum Zusammengehen mit der Ost-CDU keine Alternative gesehen. Wie beurteilen Sie das heute – auch in Anbetracht der Debatte um die Blockpartei-Vergangenheit von Stanislaw Tillich?
Mir war klar: Die Mitgliedschaft der Ost-CDU war in der Gründungsphase nach dem Krieg der unsrigen sehr ähnlich. Und die Menschen sind so, wie sie sind: Einige gehen in den Widerstand, einige fliehen, die meisten arrangieren sich unter Eingehen möglichst geringer Kompromisse mit den herrschenden Verhältnissen. Und wenige tun sich bei der Anpassung besonders hervor. Was will man jemandem vorwerfen, der als Christ in die Block-CDU eingetreten ist, um seinen Kindern berufliche Chancen zu bewahren, ohne aus der Kirche austreten zu müssen? Wenn nun ausgerechnet ein Gregor Gysi, der bewusst die alte SED niemals aufgelöst hat, weil er sich nicht von deren Vermögen und den Alt-Kadern trennen wollte, Blockflöten-Vorwürfe erhebt, geht mir das persönlich viel zu weit. Die Kampagne gegen Stanislaw Tillich ist so vordergründig und verlogen, dass ich den Vorgang gar nicht weiter kommentieren mag.

Stimmt es, dass Sie im Vorfeld der Wiedervereinigung mit dem Gedanken gespielt haben, die Stasi-Akten unbesehen zu vernichten?
Ja. Ich habe dazu – genau wie Helmut Kohl – geraten, damit die Streitigkeiten der Vergangenheit nicht zu sehr den Wiederaufbau der neuen Länder und damit die Zukunft belasten. Wir haben dann aber den Wunsch der frei gewählten Volkskammer nach Aufarbeitung respektiert und eine entsprechende Regelung in den Einigungsvertrag aufgenommen. Rückblickend kann man sagen: Wir konnten uns das als größeres, vereintes Deutschland leisten. Hätte die DDR wie Polen oder Tschechien alleine den Weg in die Freiheit bewältigen müssen, wäre sie womöglich an den kräftezehrenden Folgen dieser Form der Vergangenheitsbewältigung gescheitert. Heute kann man sagen: Es ist auch so gut gegangen. Dass dabei Verletzungen zurückbleiben, ist unvermeidlich: Viele Opfer des Systems beklagen nach wie vor, ihnen geschehe keine Gerechtigkeit. Gleichzeitig fühlen sich Stützen des damaligen Systems an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Etwas so Fürchterliches wie Teilung und SED-Diktatur wirkt leider nach, so lange Menschen leben, die dieses erlebt haben.

Können Sie sich noch erinnern, wie Sie den Abend des 9. November 1989 erlebt haben?
Ich war bei einer Besprechung mit den Fraktionsvorsitzenden im Kanzleramt – Thema waren die Probleme bei der Unterbringung mit der großen Zahl der Zuwanderer aus der DDR – als Helmut Kohls Medienberater Eduard Ackermann mit einer Agenturmeldung hereinkam und sagte, die DDR habe gerade angekündigt, dass um 22 Uhr die Mauer geöffnet werde. Ich erwiderte scherzhaft: „Zu meiner Zeit als Chef des Kanzleramtes galt hier aber noch Alkoholverbot während der Dienstzeit.“ Ackermann versicherte daraufhin, dass er es völlig ernst meinte und die Meldung bestätigt sei. Was tun? Im Bundestag war an diesem Donnerstag Haushaltsdebatte. Wir sind dann hinübergegangen ins Parlament, die Sitzung wurde unterbrochen, einige kurze Erklärungen wurden abgegeben. Dann standen drei Abgeordnete auf und haben das Deutschlandlied angestimmt, und alle anderen mit Ausnahme einiger empörter Grüner stimmten ein. Da hat sich der Bundestag zwar nur als Gesangsverein mittlerer Qualität erwiesen – aber ergreifend war es trotzdem. und viele haben geweint vor Rührung…

Hätten Sie sich damals schon vorstellen können, dass im Jahr 2009 eine Ostdeutsche Bundeskanzler sein würde?
Da kannte ich Angela Merkel ja noch nicht (lacht). Aber als sie dann wenige Monate später kennen gelernt habe, war mir schnell klar, dass in dieser Frau ein überdurchschnittliches Potenzial steckt. Und irgendwann Mitte der 90-er Jahre habe ich auch schon mal öffentlich gesagt, Angela Merkel könnte der erste weibliche Bundeskanzler werden. Sie ist unglaublich intelligent und stark, zugleich aber ein ganz normaler Mensch geblieben, ohne Eitelkeit und Allüren.

Themenwechsel: Anschläge und blutige Auseinandersetzungen wie derzeit in Nahost verunsichern die Menschen weltweit. Müssen wir auch in Deutschland Angst vor Terror haben?
Sie sollten keine Angst haben. Und ich versuche auch, keine Angst zu haben. Auf mich hat 1990 ein Geisteskranker geschossen, das hatte gar nichts mit Terrorismus zu tun. Auch wenn die Folgen für mich nicht immer nur angenehm sind. So etwas kann passieren im Leben. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, keinen absoluten Schutz. Es gibt Terrorgruppen, die Anschläge verüben wollen, auch in Deutschland – das haben wir ja schon erlebt. Die Netzwerke des internationalen Terrorismus versuchen, jeden regionalen Konflikt, ob in Indien, im Irak oder in Indonesien, auszubeuten – und sie haben damit auch Erfolg. Trotzdem: Die Sicherheitsbehörden haben bisher auch keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass es wegen des Palästina-Konfliktes aktuell Auswirkungen auf unsere Bedrohungslage gibt. Wir sind Teil der weltweiten Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, aber wir haben gut aufgestellte Sicherheitsbehörden und nehmen unsere Arbeit ernst. Wir respektieren die Bürgerrechte und verteidigen sie. Dazu gehört auch die Verpflichtung des Staates, alles zu tun, um seine Bürger vor Anschlägen zu schützen.

Wie gehen Sie persönlich mit Ihrer Behinderung um, hadern Sie manchmal mit Ihrem Schicksal?
Nein, das verfolgt mich nicht – auch nicht bei Wahlkampfveranstaltungen. An den Moment damals habe ich auch kaum noch Erinnerung. Ich meine noch, gedacht zu haben, »es ist so heiß« oder »da muss einer geschossen haben« – dann verlor ich auch schon das Bewusstsein. Sicher hadert man manchmal mit seinem Schicksal, auch damit, im Rollstuhl zu sitzen. Natürlich musste ich mich schinden, doch mir hat auch die Politik geholfen, damit fertig zu werden. Meine Erfahrung heute ist: Ich bin nicht weniger fröhlich oder weniger zufrieden als vorher. Mein Leben ist immer noch schön.
(c) SUPERillu 2009