„Das Regime lässt Respekt auch vor behindertem Leben erkennen“



Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Sie waren gerade im Olympialand China. Worum ging es bei den Gesprächen mit Sportminister Liu Peng, der ja auch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees ist?

Schäuble: Wir haben eine Zusammenarbeit auf Regierungsebene verabredet. Unser Erfahrungsaustausch hat sich seit Jahren bewährt. Nun wollen wir beispielsweise die Zusammenarbeit der Einrichtungen zur Doping-Bekämpfung intensivieren. Wir wollen in der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) gemeinsam etwas tun. Ich könnte mir zudem vorstellen, in der Sportwissenschaft, der Trainingslehre und vielleicht auch der Sportmedizin einen stärkeren Austausch zu organisieren. Wir lernen ja auch. Und auf Dauer versuchen wir, den Chinesen die Vorzüge einer freien Sportorganisation zu vermitteln.

FAZ: Doping-Bekämpfung mit den Chinesen, die als Olympia-Gastgeber besonders ehrgeizig sind – heißt das nicht, den Bock zum Gärtner zu machen?

Schäuble: Ich habe Liu Peng geraten, alles zu tun, was in seiner Macht steht, zu verhindern, dass die Spiele durch Doping-Skandale diskreditiert und überlagert werden. Das ist auch ein Teil unserer Zusammenarbeit. Er hat ausdrücklich gesagt, die Zahl der Medaillen sei für die Chinesen gar nicht wichtig. Wichtig sei, dass sie gute Gastgeber für wunderbare Olympische Spiele sind. Sie werden aber sicher auch ein paar Medaillen gewinnen. Man sollte übrigens bei der Einschätzung Chinas nicht aus den Augen verlieren, dass das Land bei den Paralympischen Spielen seit Jahren die Nummer eins ist. Im vergangenen Herbst hat China nach dem Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in Schanghai die Weltspiele der geistig Behinderten ausgerichtet. Ein Regime, das den Leistungssport von Behinderten und von geistig Behinderten so fördert, lässt einen Respekt auch vor behindertem Leben erkennen, den wir positiv würdigen sollten.

FAZ: Spiegelt sich dieser Respekt in der chinesischen Gesellschaft?

Schäuble: Ja, in Schanghai hatte ich 2007 den Eindruck, dass Werbung und Medien stärker auf die Weltspiele der geistig Behinderten ausgerichtet waren als auf das Endspiel der Frauen-WM. Ich bin nicht sicher, ob dies bei uns genauso wäre.

FAZ: Was heißt es praktisch, wenn Ihr jetzt mit der chinesischen Seite geschlossener Kooperationsvertrag auf der ?Achtung der Menschenrechte und des olympischen Geistes? basiert? War es schwer, das in den Vertrag zu bekommen?

Schäuble: Nein, das war nicht schwer. Erstens ist es gut, dass so eine Formulierung drinsteht, zweitens ist damit das Problem Tibet nicht gelöst. Trotzdem: Man kann darauf immer rekurrieren. Was China angeht, wird eine Entwicklung durch Dialog zu erreichen sein und indem man nicht aufhört, den Finger in die Wunde zu legen. Die Chinesen verbitten sich das nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten, sondern sie argumentieren. Die Debatte, auch innerhalb der Führung, hat dazu geführt, dass sie nun dem Dalai Lama ein Gespräch anbieten.

FAZ: Man muss hartnäckig für Menschenrechte eintreten…

Schäuble: Das kann man gegenüber China. Ich finde es angemessen, das mit dem nötigen Respekt nicht nur vor der Größe des Landes, sondern auch vor der Größe der Probleme zu tun, die der so schnelle Aufbruch eines Landes mit bald anderthalb Milliarden Menschen in die Moderne mit sich bringt. Die Chinesen wollen den Erfahrungsaustausch.

FAZ: Muss nicht auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) für diese Rechte eintreten? Hat es einen Fehler gemacht, indem es die Menschenrechte nicht in seinen Vertrag mit Peking aufgenommen hat? Oder muss das IOC in seiner Binnenbalance Rücksicht auf all die Vertreter despotischer Regime nehmen?

Schäuble: Das IOC hat seine eigenen Regeln. Für die Sportler, die an den Spielen teilnehmen, gibt jeder Veranstalter Garantien. Darum muss man sich keine Sorgen machen, das ist Sache des IOC, nicht der Volksrepublik China. Jetzt müssen das IOC und die Nationalen Olympischen Komitees sagen, was Sportler, die möglicherweise von der Debatte verunsichert sind, tun und lassen dürfen, um nicht gegen die Regeln des IOC zu verstoßen. In diesem Rahmen gilt selbstverständlich, dass Sportler wie alle anderen auch das Recht auf freie Meinungsäußerung haben. Der berühmte Paragraph 51.3 schreibt lediglich vor, dass politische Äußerungen nicht an olympischen Wettkampfstätten stattfinden dürfen.

FAZ: Ist es da nicht erstaunlich, wie wenig Selbstbewusstsein Jacques Rogge, der Präsident des IOC, gegenüber den chinesischen Politikern entwickelt?

Schäuble: Ich weiß nicht, ob wir aus unserer mitteleuropäischen Perspektive beurteilen können, was dort richtig oder falsch ist. Ich kenne Jacques Rogge aus einer Reihe von Begegnungen und habe das Gefühl, dass er ein kluger und unbestechlicher Mann ist. Er muss mit den Verhältnissen im IOC klug umgehen. Veranstalter der Olympischen Spiele ist das IOC. Es ist sicher eine Frage, wie man das öffentlich kommuniziert. Ob das, was in dieser Hinsicht in Peking geschieht, in den Zeitungen Europas richtig dargestellt wird, ist eine weitere Frage. Man hat in Gesprächen oft den Eindruck, dass die Korrespondenten dort die Sache differenzierter sehen als ihre Heimatredaktionen.

FAZ: Die deutsche Polizei hatte 2006 Sorge, dass Neonazis die Fußballstadien als Bühne nutzen könnten. Nun kooperieren Sie mit dem chinesischen Sicherheitsminister. Bekommt er Strategien an die Hand, die er auch gegen freie Meinungsäußerung einsetzen könnte?

Schäuble: Unsere Polizei wäre völlig ungeeignet, Ratschläge zu geben, wie man Meinungsfreiheit unterdrückt. Kooperationen im Sicherheitsbereich haben immer das Ziel, auch unsere Standards in Sachen Rechtsstaatlichkeit zu exportieren. Ich schildere meinen Gesprächspartnern, wie wir durch ein Klima der Offenheit und Toleranz eine Atmosphäre geschaffen haben, in der wir keinerlei Rechte einschränken mussten. Versuche von Extremisten, Fußballspiele für ihre Propaganda zu missbrauchen, waren bei der WM chancenlos, weil das von der überwiegenden Mehrheit der Zuschauer zurückgewiesen worden wäre.

FAZ: Was kann China von der WM 2006 lernen?

Schäuble: Wer sich um die Olympischen Spiele bewirbt, zieht die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Wer dann diese Aufmerksamkeit fürchtet, hat einen Fehler gemacht. Das Land kann sich der Öffentlichkeit der Welt stellen, es muss nur Freiheit und Unterschiedlichkeit respektieren. Was der internationale Sport für das Selbstbewusstsein und die Entwicklung von Staaten bedeutet, darf man nicht geringschätzen. Solch eine Chance hat nun China. Ich will nichts beschönigen. China kontrolliert das Internet, zensiert die Medien, überwacht viel…

FAZ:… kennt die Umerziehung durch Arbeit, zu der man ohne Prozess gezwungen werden kann, verhängt die Todesstrafe…

Schäuble: Es gibt keinen Grund zur Verharmlosung, aber es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass sich China auf dem Weg der Modernisierung nicht auch in Sachen Menschenrechte entwickelt. Das ist auch im Interesse Chinas. Sie sind auf dem Weg. Wenn man sich klarmacht, wo sie herkommen, ist das gigantisch.

FAZ: Amnesty International sagt, die Menschenrechtslage verschlechtere sich. Korrespondenten dürften, mehr noch als über ihre Heimatredaktionen, darüber klagen, dass sie öffentlich angefeindet, manche sogar bedroht werden. Rufen Olympische Spiele in Peking nicht auch negative Entwicklungen hervor?

Schäuble: Große Sportveranstaltungen tun das immer, Olympische Spiele übrigens weniger als Fußballturniere. Wir haben das auch schon bei Tenniswettbewerben zwischen Deutschland und Österreich und beim Skispringen in Polen erlebt. Möglicherweise sind die chinesische Führung und die Sicherheitsorgane durch ihre Nervosität – es gibt ja wirklich Sicherheitsrisiken – übers Ziel hinausgeschossen. Ich habe das in Peking angesprochen, und man hat das nicht zurückgewiesen, sondern versprochen, das zu überprüfen. Die Einwände von Amnesty International kann man nicht von der Hand weisen. Aber die Welt zu Gast in China – und die Olympischen Spiele sind genau das – wird den Druck hin zu einer weiteren Öffnung verstärken. Ohne die Olympischen Spiele wäre das Interesse an der Tibet-Frage in westlichen Medien geringer. Deshalb hat der Dalai Lama auch gesagt: nicht boykottieren, hingehen!

FAZ: Blüht nicht ein chinesischer Nationalismus auf?

Schäuble: Die Demonstrationen gegen das China-Bild in den westlichen Medien sollen – heißt es – nicht von oben angeordnet worden sein. So mancher Machthaber im einstigen real existierenden Sozialismus kann ein Lied davon singen, wie erst Demonstrationen stattfanden und schließlich sein Regime zu Grabe getragen wurde. Freiheitliche Entwicklungen sind selten auf homöopathische Dosen zu beschränken. Durch die Olympischen Spiele werden Entwicklungen in Gang gesetzt. Das wissen die Chinesen. Sie sprechen nicht davon, ob sich etwas ändert, sondern von dem Tempo, in dem man das verkraften kann, ohne dass es außer Kontrolle gerät.

FAZ: Hat der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) dennoch zu früh gesagt: Wir boykottieren nicht?

Schäuble: Wenn ich mich recht erinnere, wurde gesagt: Wenn die Spiele stattfinden, nehmen wir teil. Das musste schnell geschehen, um Klarheit zu schaffen. Wie sollen Sportler trainieren, wenn sie sich jeden Morgen fragen, ob sie überhaupt fahren?

FAZ: Kritik kam vom Vorsitzenden des Sportausschusses des Bundestages. Was läuft falsch zwischen DOSB und Sportausschuss, dass es so häufig kracht?

Schäuble: Mir scheint das eine persönliche Auseinandersetzung des einen oder anderen zu sein, der sich mit öffentlichen Äußerungen nicht zurückhält. Nach meinem Verständnis vom Verhältnis von Staat und Politik zum Sport sollte man die unterschiedlichen Verantwortungen respektieren. Thomas Bach ist als Vertreter des deutschen Sports so demokratisch gewählt wie Angela Merkel als Vorsitzende der CDU und als Bundeskanzlerin. Man sollte den Sport nicht immer damit bedrohen, dass der Gesetzgeber dieses machen könnte und jenes oder dass die Politik letzten Endes doch verantwortlich sei. Für mich kommt darin mangelnder Respekt vor der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Sports zum Ausdruck. Ich respektiere Thomas Bach in seiner Funktion, und ich erwarte Respekt in meiner Funktion.

FAZ: Liegt es im nationalen Interesse Deutschlands, dass Thomas Bach IOC-Präsident wird?

Schäuble: Wir haben ein Interesse daran, und das sagen wir dem organisierten Sport auch, dass unsere Vorstellungen in den internationalen Gremien des Sports vertreten werden, etwa die von einem sauberen, dopingfreien Sport. Dieser Wettbewerb wird immer härter. Wo wir können, helfen wir auch.

Das Gespräch führte Michael Reinsch.

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