„Da sind wir uns in die Arme gefallen“



Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erinnert sich an die wichtigsten Ereignisse auf dem Weg zur Einheit vor 30 Jahren. Allgemeine Zeitung Mainz, 05.09.2020.

Herr Präsident, Anlass für unser Gespräch ist der Tag der Deutschen Einheit, der sich bald zum 30. Mal jährt. Das haben einige Zeitzeugen zum Anlass genommen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, unter anderem der Mainzer Innenpolitiker und Bundestagsabgeordnete Johannes Gerster. Aber wir können nicht darüber hinweggehen, was am Samstag rings um den Reichstag passiert ist. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder sehen von Menschen, die mit der Reichskriegsflagge im Arm die Treppen des Reichstages heraufstürmen?

Die Erinnerung daran, dass der Brand des Reichstages zu Beginn der Naziherrschaft das Symbol für die Zerstörung der Demokratie gewesen ist, damit auch das Symbol für die schlimmsten Verbrechen in der deutschen Geschichte. Mit alten Symbolen daran – gewollt – zu erinnern und so zu tun, als wolle man den Reichstag stürmen, ist einfach abscheulich.

Der Reichstag wird ja gerne als Kulisse für alle möglichen Aktionen verwendet.

Das geht gar nicht. Der Reichstag ist das Symbol der Demokratie in der deutschen Geschichte und muss sakrosankt sein. Da darf man nicht unterscheiden zwischen guten und weniger guten Dingen, für die man ihn missbraucht. Das wird sich auch nicht wiederholen. Darüber habe ich mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin gesprochen.

Es gibt bislang keine strenge Bannmeile, sondern nur den sogenannten befriedeten Bezirk, der Demonstrationen ausdrücklich erlaubt.

Wir wollen uns nicht abkapseln, aber wir werden in Absprache mit den Landesbehörden durch polizeiliche und bauliche Maßnahmen sicherstellen, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Unter den Demonstranten treten Nationalpopulisten aus den neuen Bundesländern stark hervor. Der Historiker Heinrich-August Winkler begründet die Empfänglichkeit der Ostdeutschen für solche Tendenzen damit, man habe in der DDR kaum Gelegenheit gehabt, sich mit der westlichen Demokratie anzufreunden.

Die Unterscheidung in Ost und West ist Quatsch. Erfurt liegt weit westlich von Bayern. Nach 30 Jahren liegen die Unterschiede nicht mehr entlang der alten Demarkationslinien. Winkler hat schon recht, dass die Menschen in der DDR 40 Jahre keine Gelegenheit hatten, den Westen auf der anderen Seite der Mauer kennenzulernen. Aber angesichts der Brandanschläge gegen Ausländer beispielsweise in Solingen und Ludwigshafen brauchen wir im Westen uns gar nicht so abzugrenzen. Festzuhalten bleibt auch, dass die größten Schreihälse in der rechtsextremen Szene im Osten westdeutsche Importe sind.

Sie verweisen darauf, dies sei kein rein deutsches Phänomen.

Die westliche Welt befindet sich in einem Stresstest, und wir haben noch keine zufriedenstellende Antwort auf diese Herausforderung gefunden. Aber man muss den Deutschen immer wieder sagen, dass die große Mehrzahl der acht Milliarden Menschen auf der Welt träumen, in demokratischen rechtsstaatlichen Verhältnissen und in Freiheit zu leben.

Also sind wir uns unseres Glücks nicht bewusst?

So ist der Mensch. Alles, was er hat, schätzt er nicht so sehr. Im Schlaraffenland sollen einem die Tauben in den Mund fliegen. Ich bin sicher, wir hätten schon nach zwei Tagen einen unüberwindbaren Widerstand dagegen.

Lassen Sie uns politische Archäologie betreiben. Wie gut kannten Sie die DDR vor dem Fall der Mauer?

Nicht so gut wie Johannes Gerster, der mit der ganzen rheinland-pfälzischen Landesgruppe mehrfach dort war. Ich war als Chef des Kanzleramtes unter Helmut Kohl seit 1984 für die Beziehungen zur DDR zuständig. Dabei hatte ich Kontakt zu Alexander Schalck-Golodkowski, der für diese Verhandlungen von Honecker direkt beauftragt war.

Was war das Verhandlungsziel?

Wir konnten die Teilung nicht ändern. Der Schlüssel dazu lag in Moskau. Unsere Gleichung war: Wir helfen mit unseren überlegenen wirtschaftlichen Leistungen der DDR bei ihren erheblichen Problemen, im Gegenzug gewährt die DDR menschliche Erleichterungen. Ab 1986 sind jährlich bis zu sechs Millionen Menschen aus der DDR für eine Woche in der Bundesrepublik zu Besuch gewesen. Nach der Rückkehr haben die erst gemerkt, wie schlecht ihre Verhältnisse zu Hause wirklich waren. Deshalb hat Schalck-Golodkowski – unter vier Augen – gesagt: Wenn die Menschen so viel reisen dürfen, müssen Sie uns helfen, deren gestiegene Ansprüche zu befriedigen.

Wie standen Sie zu ihm?

Wir hatten ein gutes Arbeitsverhältnis. Ich habe ihm mal gesagt: Wenn Sie gewinnen sollten, stellen Sie uns alle an die Wand. Wenn wir gewinnen sollten, wovon ich ausgehe, kann es sein, dass wir den einen oder anderen ins Gefängnis stecken. Das ist der Unterschied zwischen rechtsstaatlicher Demokratie und Diktatur.

Wie kam die Wende ins Rollen?

Erst als Gorbatschow an die Macht kam, haben sich in der DDR die Bürgerbewegungen gebildet. Man wollte nicht unbedingt die Einheit, aber die Mauer sollte weg, damit man an dem Wohlstand teilhaben konnte. Das kann man niemanden vorwerfen. Deshalb haben viele gesagt, als die Mauer offen war, jetzt geht’s schnell, oder wir gehen. Das Gerede, wir hätten die Menschen damals überrollt, ist Quatsch.

Warum?

Nach dem Fall der Mauer haben Tausende die DDR verlassen. Das Tempo haben ausschließlich die Menschen in der DDR bestimmt. Bei der einzigen freien Wahl in der DDR, der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990, hat eine große Mehrheit für die Parteien gestimmt, die gesagt haben, sie sind für eine Wiedervereinigung auf der Grundlage von Artikel 23 des damaligen Grundgesetzes, nämlich den Beitritt.

War die Regierung Kohl Anfang 1990 eine Getriebene oder konnten Sie noch planvoll handeln?

Wir haben reagiert. Ich habe zu Helmut Kohl gesagt, dass solche Bewegungen einer Lawine glichen, die immer schneller werde und nicht mehr aufzuhalten sei. Wie feinfühlig Kohl war, zeigt seine Antwort. Wahrscheinlich haben Sie recht, meinte er, aber ich, der deutsche Bundeskanzler, darf nicht derjenige sein, der drängt. Das wurde erst möglich, nachdem Gorbatschow im Februar gesagt hatte, der Schlüssel zur Einheit liegt bei den Deutschen.

Wie kam es zum Einigungsvertrag?

Darauf erhebe ich das Urheberrecht. Ich hatte mir in den Weihnachtsferien 1989 überlegt, wie man das mit einem Beitritt machen könnte. Mir fiel der Beitritt des Saarlandes 1957 ein. Damals war der Vertragspartner Frankreich. Die DDR könnte ja mit uns einen Vertrag darüber aushandeln, wie dieser Beitritt aussähe.

Über die Verhandlungen schreibt Johannes Gerster, für den Einigungsvertrag – bestehend aus tausend maschinengeschriebenen Seiten – habe man sieben Wochen gebraucht, aktuell habe man für das Bundestags-Wahlrechtsreförmchen sieben Jahre gebraucht.

Wir haben keine Reform. Was die Koalition da vereinbart hat, ist nicht mal ein Reförmchen. Man kann das aber nicht vergleichen.

Blieb am Ende der Verhandlungen Zeit für Gefühle?

Wir waren erschöpft und zugleich erleichtert. Als alles vorüber war, habe ich alle beteiligten Mitarbeiter aus Bonn mit zwei Militärmaschinen nach Berlin fliegen lassen, und wir haben im Kronprinzenpalais Unter den Linden gefeiert. Es gab vor der Ratifizierung noch eine Bombendrohung. Ich habe nach reiflicher Überlegung entschieden, sie zu ignorieren. Eineinhalb Stunden vor der Ratifizierung am 31. August zog mich DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière in ein Zimmer weg von Presse und Fotografen. Wir sind beide keine zu Rührseligkeit neigende Menschen, aber da sind wir uns in die Arme gefallen und hatten beide Tränen in den Augen.

Welche Rolle spielte DDR-Verhandlungsführer Krause?

Nach der Zeremonie am Nachmittag bin ich mit Günther Krause nach Hause gefahren. Er wohnte in Berlin im Haus eines hohen Stasifunktionärs. Ich habe zu ihm gesagt, Günther, das ist aber kein Haus, das zu Dir passt. Tu mir den Gefallen und gib das ab.

Nicht standesgemäß?

Nein, im Gegenteil… Ich schätze ihn immer noch. Er ist ein toller Kerl. Er hat unglaubliche Verdienste und Fähigkeiten, aber er hat sich in den Jahren danach in Schwierigkeiten gebracht.

Wie erklären Sie sich, dass gerade in den neuen Bundesländern 30 Jahre nach dem Mauerfall die Parteien am äußeren linken und rechten Flügel so erfolgreich abschneiden?

Die friedliche Revolution beinhaltete, dass die, gegen die die Revolution gemacht wurde, an der Demokratie teilhaben durften. Die SED war bei den ersten freien Wahlen dabei und hat immerhin um die 16 Prozent gewonnen. Die Linke hat übrigens einen nicht geringen Teil an die Rechten verloren. Die Menschen dort mussten wesentlich mehr Veränderungen aushalten als wir. Dann saßen welche von damals als Wendehälse schon wieder oben. Es gab Enttäuschungen. Das ist ein guter Nährboden.

Es ist seit der Wende im wahrsten Sinne des Wortes furchtbar viel passiert: Kriege, persönliche Schicksalsschläge, unzählige Krisen, jetzt noch das Virus. Verblasst bei Ihnen die Erinnerung an die glücklichen Tage?

Bei mir verblasst nichts. Das war die reichste Erfahrung in meinem politischen Leben.

Wann ist die Einheit vollzogen?

Sie ist weitgehend vollzogen. Wir werden unterschiedlich bleiben. Ganz vollendet wird es nie sein. Das wäre ein idyllischer Idealzustand. Ich erinnere an die gebratenen Tauben.

Das Interview führte Stefan Schröder.