Alle sind behindert – wir wissen es wenigstens



Seit Ausbruch der Euro-Krise ist der Bundesfinanzminister im Dauereinsatz. Warum tut sich ein 70-jähriger Rollstuhlfahrer diesen Stress an? Ein Gespräch mit dem Capital über Ehrgeiz im Alter, Härte in der Führung und Gedrängel am Büfett.

Capital: Herr Minister, spielen Sie noch Karten?

Wolfgang Schäuble: Sehr selten. In der wenigen Freizeit, die mir bleibt, gucke ich, dass ich etwas mit meiner Frau mache. Die Versuche, ihr Skat beizubringen, waren nicht sehr erfolgreich.

Capital: Ist vielleicht auch besser so. Ihr Bruder Thomas berichtet, dass Sie früher beim Skatspieler unerträglich waren.

Schäuble: Na ja, Gott. Wenn Thomas Geschichten aus unserer Kindheit erzählt, ist immer eine gewisse schöpferische Fantasie mit dabei. Ich kann darüber lachen, schließlich kenne ich ihn lange genug.

Capital: Sie können also durchaus gut verlieren?

Schäuble: Der Vorwurf war eher, dass ich ein schlechter Gewinner wäre…

Capital:der nach Siegen in Triumphgeheul ausbrach.

Schäuble: Da sage ich: lieber gewinnen als verlieren. Aber Niederlagen gehören dazu.

Capital: Hat der Ehrgeiz bei Ihnen mit den Jahren nachgelassen?

Schäuble: Mit 70 ist das anders als mit 30. Die Prioritäten und die Posterioritäten verändern sieh. Ich habe immer noch Ehrgeiz, aber er ist vielleicht ein wenig milder geworden.

Capital: Wem fühlen Sie sich in Ihrem Streben besonders verpflichtet? Der Kanzlerin, den Deutschen – oder dem Eintrag ins Geschichtsbuch?

Schäuble: Vor allem dem demokratischen Souverän. Parteien tind Institutionen sind zwar notwendig und nützlich, damit das repräsentative System funktioniert. Aber ein politisches Amt ist ein Auftrag auf Zeit, den der Wähler vergibt. Ihm gilt meine Loyalität zuallererst.

Capital: Das müssen Sie ja jetzt sagen.

Schäuble: Ich will anständig bleiben im Leben, Wer eine herausgehobene Punktion hat, wirkt zwangsläufig als Beispiel für andere. Wie lernt denn eine Gesellschaft – wenn nicht davon, wie sich andere benehmen, vor allem die Führungskräfte?

Capital: An welchen Vorbildern haben Sie sich selbst am meisten orientiert?

Schäuble: Ich habe nie irgendjemanden nachgeeifert. Als Jugendlicher wollte ich natürlich ein Fußballer werden wie Fritz Walter. Die Aussichtslosigkeit, das zu verwirklichen, hat dazu geführt, dass ich später beim Tennis schon nicht mehr daran geglaubt habe, so zu werden wie Boris Becker. Natürlich gibt es Menschen, die mich als Politiker sehr beeindruckt haben: Nelson Mandela mit seiner Fähigkeit, auch größtes Unrecht zu verzeihen. oder Vaclav Havel, der in Tschechien eine grandiose Rolle gespielt hat. Aber auch diese Figuren der Geschichte sind aus der Nähe betrachtet allesamt nur Mensehen.

Capital: In Ihrer Karriere gab es immer wieder Punkte, an denen andere hingeworfen hätten, um einen gut dotierten Job in der Wirtschaft anzu nehmen. Sie nicht. Warum?

Schäuble: Ich bin als junger Mann ziemlich schnell zum Minister aufgestiegen. Damit war ich vollauf beschäftigt, ich habe mich nicht nach anderen Jobs umgeschaut. Und plötzlich saß ich im Rollstuhl, da erledigte sich das mit den Offerten ein Stück weit von selbst. So geht’s im Leben. Um es augenzwinkernd zu sagen: Ich konnte mich vor lukrativen Angeboten retten.

Capital: Hätten Sie sich locken lassen?

Schäuble: Ich bin nicht in die Politik gegangen, um möglichst viel Geld zu verdienen. Politik ist faszinierend, ich mache sie bis heute mit Freude. Und darben muss man dabei auch nicht.

Capital: Wirklich? Ihre Frau wird mit dem Satz zitiert, dass Sie heute deutlich weniger lachen als vor dem Attentat im Jahr 1990.

Schäuble: Meine Frau bestreitet, dass sie das jemals gesagt hat. Und es ist auch grober Unsinn. Natürlich liegt für viele der Schluss nahe: Wer behindert ist, muss verbittern. Mich hat der Rollstuhl weder härter noch unerbittlicher gemacht. Er hat mich auch nicht zu einem besseren Menschen gemacht. Rollstuhlfahrer zu sein ist kein moralischer Qualitätsvorsprung, man ist einfach nur ein behinderter Mensch. Ich sage gelegentlich zu anderen Behinderten: Alle Menschen sind behindert – aber wir wissen es wenigstens.

Capital: Vermissen Sie etwas in Ihrem Leben?

Schäuble: Natürlich kann ich vieles nicht mehr machen. Was glauben Sie, wie schön es wäre, im Herbst im Schwarzwald zu wandern oder im Winter in den Alpen Ski zu fahren. OderTennis zu spielen: Ich wäre jetzt in der Ü 70 spielberechtigt und würde wahrscheinlich auf Gegner treffen, die schon vor 50 Jahren mit mir auf dem Platz standen. Aber das bleibt jetzt allen, auch mir, erspart, (lacht)

Capital: Stachelt Sie Ihr Handicap Im Beruf besonders an?

Schäuble: Nein.

Capital: Wie lange haben Sie gebraucht, um das Leben im Rollstuhl zu akzeptieren?

Schäuble: Das ist ein fließender Prozess. Am Anfang liegen Sie nur da. Sie können sich nicht bewegen, werden durch einen Strohhalm mit Flüssignahrung ernährt und es tut Ihnen einiges weh. Sie können nichts tun. und die Frage, ob Sie die Situation akzeptieren oder nicht, interessiert niemanden, Ich habe dann versucht, so wenig zu hadern wie möglich – und mir gesagt: Mach das Beste draus, sonst verdirbst du dir den Rest deines Lebens, Das ist mir relativ gut gelungen.

Capital: Hilft Ihnen diese Haltung heute in heiklen Phasen, etwa der Euro-Krise?

Schäuble: Die Erfahrung, dass von einer Sekunde auf die andere alles ganz anders sein kann, macht gelassener. Auch schwere Rückschläge müssen einen nicht umwerfen, es geht immer weiter. Das macht mich ein Stück weit resistenter gegen die Aufregungen im Tagesgeschäfi.

Capital: Werden Sie wegen Ihrer Behinderung von anderen Politikern anders behandelt?

Schäuble: Nein, das kam noch nie vor. Auf der internationalen Ebene hat der eine oder andere vielleicht am Anfang etwas komisch geschaut. Heute ist das völlig unproblematisch. Ich lege auch keinen großen Wert aufs Protokoll. Wenn der Vordereingeingang in ein Gebäude für mich nicht passt, nehme ich eben die Hintertür. Ich muss nicht im Blitzlichtgewitter zum Filmball gehen.

Capital: Im Bundestag haben Sie sich über die Fotografen mehrfach ziemlich geärgert. Warum?

Schäuble: Der Weg über die Rampe ist anstrengend. Das gibt immer blöde Bilder, weil man die Anstrengung sieht, und dann heißt es wieder: oh Mann, was hat der Schäuble es schwer. Dabei würde es jedem so gehen, der im Rollstuhl eine Rampe hochwollte. Normalerweise läuft einer der Polizisten, die mich begleiten, so neben mir, dass man mich dabei nicht gut fotografieren kann. Wenn trotzdem einer die Kamera draufhält, kann ich schon mal unfreundlich werden – die Bilder sind einfach unsäglich blöd. Das muss wirklich nicht sein.

Capital: Sind solche Bilder auch der Grund, warum man Sie auf den für Berlin typischen Abendempfängen so selten sieht?

Schäuble: Es gibt für Rollstuhlfahrer wirklich bessere Situationen, als sich mit anderen Leuten um das Büfett zu drängen, dann vielleicht auch noch von oben vollgekrümelt zu werden. Oder bei einem Stehempfang immer den Kopf nach oben und hinten zu verdrehen. Und ehrlich gesagt: Furchtbar viel verpasst man nicht, wenn man zu Hause bleibt.

Capital: Als die zentralen deutschen Figuren in der Euro-Krise stehen Angela Merkel und Sie besonders unter Druck. Reden Sie manchmal mit ihr darüber, wie sich der Stress verkraften lässt?

Schäuble: Eigentlich nicht. Was die Kanzlerin physisch und psychisch leistet, ist unglaublich. Da kann ich nur staunen. Als Finanzminister habe ich ordentlich zu tun, aber mit dem Job des Regierungschefs ist meine Aufgabe nicht vergleichbar. Was bei aller Arbeit hilft, ist, wenn man gut delegieren kann.

Capital: Auf wen verlassen Sie sich besonders?

Schäuble: Ich vertraue auf meine Staatssekretäre und die Abteilungsleiter- und damit indirekt auf deren Mitarbeiter, unabhängig davon, ob sie schon zu SPD-Regierungszeiten im Amt waren. Meine Beamten verstehen die fachlichen Details besser als ich – sie müssen mir komplizierte Themen so erklären, dass auch ich sie verstehe und nach außen vertreten kann. Das ist manchmal schwierig. Ich bin ja bekanntermaßen begriffsstutzig, (lacht)

Capital: Viele Deutsche sind von der europäischen Idee durch die Krise schwer enttäuscht worden und wenden sich ab. Lohnen sich die ganzen Rettungsaktionen überhaupt noch?

Schäuble: Dieses Urteil teile ich nicht. Die europäische Idee besteht fort. Mit dem Gedanken, dass die EU Frieden schafft, überzeugen Sie heutzutage allerdings niemanden mehr. Kein Mensch glaubt, dass es zwischen Deutschland und Frankreich wieder Krieg geben könnte, Gott sei Dank. Früher war es der Kalte Krieg, der ein einiges Europa nötig machte. Heute ist es vor allem die Globalisierung. Den Leuten geht es wirtschaftlich gut, deshalb muss man sie daran erinnern: Ohne europäische Einigung wäre unser Wohlstand nicht so hoch, und er ließe sich auch nicht halten. Das muss man erklären – wieder und wieder.

Capital: Europa war und ist Ihr großes Thema. Wem im CDU-Nachwuchs trauen Sie zu, dieses Erbe fortzuführen?

Schäuble: Es erscheint mir jetzt doch ein bisschen verfrüht, über „Erbe“ zu sprechen, und ich würde es auch ein wenig vermessen finden, mich zum Richter über Talente aufzuschwingen. Sicher ist aber, dass wir eine Menge guter junger Leute haben, sowohl im Bund als auch in den Ländern.

Capital: Mag sein. Das eigentliche Problem ist doch, dass die besten Leute gar nicht erst in die Politik gehen.

Schäuble: Der Beruf des Politikers ist für junge Leute unattraktiver geworden. In Zeilen der Globalisierung gibt es viele, die sagen: Politik? Ach nein, ich schau mich lieber woanders um. Die Alternativen werden mehr, und der Wettbewerb um die Talente ist größer. Es herrscht aber kein Nachwuchs-Notstand.

Capital: Dennoch bedeutet Politik viel Stress für wenig Geld.

Schäuble: Wenn Sie möglichst viel verdienen wollen, ist die Politik nicht das Richtige. Jedenfalls nicht in der Demokratie. Dann suchen Sie sich lieber eine Diktatur und werden mittels Korruption reich. Wenn Sie indes zu dem Schluss kommen, dass die Maximierung Ihres Einkommens nicht allein selig macht, ist Politik faszinierend. Das fängt in jungen Jahren oft ehrenamtlich an. Und wenn daraus eine berufliche Karriere wird: Es gibt wahrlich Schlimmeres.

Capital: Sie selbst sagen: Politik ist ein gutes Stück erbarmungslos.

Schäuble: Das ist die Kehrseite. Je größer die Verantwortung, desto größer der Druck. Da gibt es den alten Satz: „Wenn du die Hitze nicht aushallst, bleib aus der Küche raus“. So ist es. Es gibt Menschen, die wollen von Anfang an eine gestaltende, führende Rolle spielen. Überdurchschnittlich viele Abgeordnete waren in der Schule Klassensprecher. Wer stattdessen sagt: Nein, nein, lass das mal lieber andere machen“, wird sich vermutlich nicht für die Politik entscheiden. Ich will das nicht als gut oder schlecht bewerten: Menschen ticken halt unterschiedlich.

Capital: Reicht Ihnen Respekt als Lohn für Ihre Arbeit? Oder wollen Sie, dass man Sie mag?

Schäuble: Das lässt sich nicht scharf voneinander trennen. Wenn jemand sagt: „Du bist das größte Ekel“, ist das hart. Das will man nicht hören. Wertschätzung für das, was man leistet, gehört dazu. Ich strebe allerdings nicht danach, den Wettbewerb „Wer ist der Beliebteste im ganzen Land“ zu gewinnen. Wenn Politiker nur auf Ihre Popularität achten, wird’s gefährlich. Trotzdem starren viele Mandatsträger jede Woche auf die neuesten Umfragen.

Schäuble: Die Menschen erwarten von der Politik Führung, das darf man nicht unterschätzen, Sie gehen zum Arzt, weil sie denken: Der weiß, was für meine Gesundheit gut ist. Und so fordern sie von denjenigen, die sie in ein Amt wählen, dass sie Probleme lösen. Es reicht als Politiker nicht zu fragen: „Wie hättet ihr’s denn gern?“ Deswegen finde ich den gedanklichen Ansatz der Piraten höchst befremdlich. Politik muss Informationen und Interessen filtern, gut begründete Entscheidungen fällen – und Mehrheiten finden. Eine große, spannende Aufgabe!

Capital: Gehört zu dieser Art von Führung zwangsläufig Härte?

Schäuble: Ich würde es nicht Härte nennen, sondern Konsequenz. Und Verlässlichkeit, damit Vertrauen entstehen kann.

Capital: In Ihrer Konsequenz waren Sie nicht immer zimperlich. Gibt es Situationen, von denen Sie rückblickend sagen: Da habe Ich jemanden falsch behandelt?

Schäuble: Ja klar, die gibt es ohne Ende. Man muss sich davor hüten zu glauben, dass man alles richtig gemacht hat. Ich versuche, aus Fehlern zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen.

Capital: Sie wollen nach der Wahl 2013 weitermachen. Was ist das wichtigste Projekt, das Sie noch umsetzen wollen?

Schäuble: Es gibt kein konkretes Gesetzesprojekt, das man umsetzt, in die Ablage packt und dann sagt: So, das war’s jetzt ist meine politische Arbeit zu Ende. Die größte Aufgabe der nächsten Jahre bleibt die europäische Einigung.

Das Interview führte Claudio De Luca und Christian Baulig.

Alle Rechte: Capital.