60 Jahre Verfassungskonvent Herrenchiemsee



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Festakt ?60 Jahre Verfassungskonvent Herrenchiemsee? auf Herrenchiemsee

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Die Ministerpräsidenten der Länder in den westlichen Besatzungszonen setzten 1948 einen Verfassungsausschuss ein, um einen Entwurf für ein Grundgesetz auszuarbeiten. Sie waren ihrerseits von den West-Alliierten beauftragt worden. Ziel war eine ?föderative Regierungsform, die die Rechte der beteiligten Länder schützt und gleichzeitig eine angemessene Zentralinstanz schafft sowie Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.? Bundesstaatlicher Föderalismus und Grundrechte: Das waren die Vorgaben.

Die Ministerpräsidenten haben sich mit diesem Auftrag schwer getan. Sie fürchteten, dass die Spaltung Deutschlands zwischen den westlichen und der sowjetischen Besatzungszone verfestigt würde. Sie verständigten sich darauf, alles zu vermeiden, was als Gründung eines Weststaates mit einer eigenen Verfassung interpretiert werden könnte. An vielen Stellen ist diese Zurückhaltung, das Provisorische erkennbar.

Im Protokoll der Sitzung, in der die Einberufung des geforderten Verfassungsausschusses beschlossen wurde, steht: ?Herr Ministerpräsident Dr. Ehard? ? der damalige Bayerische Ministerpräsident ? ?lädt den Verfassungsausschuss nach einem ruhigen Ort in Bayern ein, damit seinen Mitgliedern Gelegenheit gegeben wird, unbeeinflusst vom amtlichen Getriebe gründliche Arbeit zu leisten.?

Das gastgeberische Engagement war nicht ganz uneigennützig, wie Ehard später in seinen Memoiren bekannte: ?In dem Bestreben, den Einfluss Bayerns auf die Gestaltung der künftigen Verfassung möglichst zu intensivieren, nutzte ich die Gelegenheit und lud den Ausschuss ein, seine Beratungen auf der Insel Herrenchiemsee durchzuführen.? Der Einfluss war dann wohl doch nicht groß genug, denn ein Jahr später stimmte der bayerische Landtag als einziger gegen das Grundgesetz.

Der Ausschuss war klein und dennoch vielfältig: Er bestand aus elf stimmberechtigten Mitgliedern, einem für jedes Land; Berlin war wegen seines besonderen Status nicht stimmberechtigt. Hinzu kamen jeweils ein bis zwei Mitarbeiter sowie fünf Sachverständige. Keines der Mitglieder war offizieller Vertreter einer politischen Partei; manche gehörten nicht einmal einer Partei an. Sie waren als Beamte, als Professoren oder als frühere Diplomaten ausgewählt worden.

Dass es nur Männer waren, kommt uns heute weniger selbstverständlich vor. Aber das Bundes-Gremienbesetzungsgesetz galt damals noch nicht. So konnte die Presse ? mit leicht süffisantem Unterton ? von den ?Herren vom Chiemsee? sprechen, die ?mit dem Blick auf den schönen Schein des bayerischen Bergsees und fernab des städtischen Trümmerelends ihren täglichen Aufstieg in die Höhen der staatstheoretischen Abstraktionen gemacht haben?.

Ganz fair war diese Kritik nicht. Der Verfassungsausschuss tagte übrigens nicht in den prunkvollen Räumen des neuen Schlosses, in dem wir uns heute befinden, sondern nebenan im alten Chorherrenstift; die Unterbringung war sehr bescheiden. Urlaubsstimmung kam nicht auf. Die Mitglieder des Verfassungskonvents ? unter ihnen Carlo Schmid, Otto Suhr, Adolph Süsterhenn, Paul Zürcher ? haben unermüdlich gearbeitet. In der knappen Zeit, die ihnen zur Verfügung stand ? vom 10. bis 23. August 1948 ?, haben sie das Gerüst unseres Grundgesetzes entworfen, das sich bis heute bewährt hat. Das zeigt übrigens, dass es nicht das Schlechteste ist, umfassende Gesetzes- oder Vertragswerke zügig zu beraten. Beim Vertrag zur deutschen Einheit, den wir ähnlich schnell beraten haben, habe ich diese Erfahrung selbst gemacht.

Zugleich trifft es wohl zu, dass die Mitglieder des Konvents ?der Welt? für einen Moment tatsächlich etwas ?entrückt? waren ? wie es im Programm der Herrenchiemsee Festspiele heißt. Auf Herrenchiemsee war vom Nachkriegselend, von Flucht, Vertreibung und zerstörten Städten nichts zu spüren. Das gab Anlass zur Kritik, in der Presse, auch im politischen Raum. Aber vielleicht war es gerade gut und notwendig, um einen weitsichtigen Verfassungsentwurf zu formulieren, der in seinen wesentlichen Zügen die Zeit überdauern konnte, über den alltäglichen Problemen der Nachkriegszeit stehend, aber doch sehr deutlich auf die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und der Nazi-Tyrannei reagierend.

?Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.? So beginnt der erste Artikel des Herrenchiemseer Entwurfs mit der Überschrift: Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder. Der Eingangssatz, den Carlo Schmid formuliert hatte, wurde später allerdings nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Die Argumentation von Theodor Heuss, es sei ein grundlegendes Missverständnis, den demokratischen Staat und den Einzelnen als Antipoden zu sehen, überzeugte. Wenn das nur heute auch alle, die sich so gerne auf ihn berufen, noch wüssten! Es blieb aber der für eine Verfassung ziemlich revolutionäre Ansatz, die Grundrechte an den Anfang zu stellen und das eigentliche Staatsrecht erst danach zu regeln.

Der Grundrechtsteil war thematisch umfassend und in der Formulierung von meisterhafter Kürze. Später hatte der verfassungsändernde Gesetzgeber eine weniger glückliche Hand wie etwa die Neufassungen von Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) und Art. 16a (Asylrecht) zeigen.

An den Anfang des Grundrechtskataloges stellte der Herrenchiemseer Entwurf ? als erster überhaupt ? die Aussage, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

All das entsprach dem antitotalitären Grundkonsens des Verfassungskonvents. Nach der nationalsozialistischen Willkür- und Gewaltherrschaft und der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges bestand ? unabhängig vom politischen Standort ? Übereinstimmung, dass es nie wieder soweit kommen dürfe. Einer Vereinnahmung des Einzelnen durch einen totalitären Staat sollte widersprochen, das Individuum gestärkt werden.

Eine der Quellen für das Bekenntnis zur Menschenwürde war der Kreisauer Kreis. Helmut von Moltke hatte, sollte der Sturz Hitlers gelingen, als Ziel für einen neuen Staat notiert:?Die Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person als Grundlage der zu erstrebenden Rechts- und Friedensordnung.?

Die Würde des Individuums als Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft ist eine der Leitideen des Grundgesetzes. Die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, derer wir heute besonders gedenken, haben sie verkörpert, als sie sich mit heroischem Mut gegen das Nazi-Regime stellten.

Die Widerstandskämpfer des 20. Juli bezogen die Motivation für ihr Tun aus einer moralischen Selbstverpflichtung, ohne die Freiheit nicht existieren kann: nicht nur im Sinne des eigenen Vorteils zu handeln, sondern Verantwortung zu übernehmen, für den Anderen, für die Mitmenschen.

Wie ist es damit heute, wo wir in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben? wo die Mehrheit der Deutschen keine eigenen Erinnerungen mehr an den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hat? wo unsere gegenwärtige Rechtsordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft von vielen als gegeben hingenommen und ewig gültig angesehen werden?

Heroischer Mut ist heute in der Regel nicht mehr vonnöten. Aber Engagement bleibt unverzichtbar, und fest für seine Meinung einzustehen auch. Vielleicht fällt das fast schwerer, weil alles so selbstverständlich zu sein scheint. Auch Bismarck wusste das, der einmal gesagt haben soll: ?Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Civilcourage fehlt.?

Wie passt Zivilcourage in eine Welt, in der so ziemlich alles möglich ist, die sich ständig und immer schneller wandelt, in der es kaum noch einen Wert gibt, der nicht schon hinterfragt oder gar belächelt worden ist?

Heute muss in Deutschland niemand mehr in den Widerstand gehen. Wer dies trotzdem behauptet, stellt die Verhältnisse auf den Kopf und sich außerhalb des Konsenses, der alle demokratischen Kräfte und Parteien verbindet. Und wer deutsche Behörden mit der Gestapo oder der Stasi vergleicht, der hat nicht im Geringsten begriffen, was es hier in diesem Land für furchtbare Verbrechen gegen Menschen gegeben hat.

Gerade weil die freiheitliche Ordnung keine heroischen Taten erfordert und im Alltag nicht eben viel an Mut und Todesverachtung verlangt, neigen wir zu dem Trugschluss, dass sie auch ohne das Engagement der Menschen auskommen kann.

Aber der freiheitliche Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht wirklich zu schaffen vermag. Ohne Demokraten keine Demokratie, das wissen wir seit dem Scheitern vom Weimar. Und ohne Verantwortung und Einsatzbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger keine nachhaltige Freiheit. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dürfen nicht erst wertvoll erscheinen, wenn sie gefährdet oder gar verloren sind. Damit es dazu niemals wieder kommt, muss uns die Haltung und moralische Kraft der Widerstandskämpfer auch heute Vorbild sein, und wir können ? gerade weil von uns soviel weniger an Mut und Einsatz gefordert wird ? lernen aus den Ideen und Gedanken, die Persönlichkeiten wie Helmuth von Moltke, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Carl Dietrich von Trotha,Pater Alfred Delp im Kreisauer Kreis und anderen Gruppen des Widerstandes entwickelt und gelebt haben.

Im Grundgesetz gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Der Formulierung individueller Grundrechte im Herrenchiemseer Entwurf lag kein Konzept verantwortungsloser individualistischer Freiheit zu Grunde, wie es in Zeiten von Entgrenzung und Bindungslosigkeit von manchen verfochten wird. Die Stärkung der individuellen Freiheit gründete auf der Annahme, dass der Einzelne verantwortlich handelt. Und es war dem Konvent selbstverständlich, dass die Grundrechte in die allgemeine, also für jedermann geltende Rechtsordnung eingebettet sein sollten. Bei der bundesstaatlichen Homogenitätsklausel für die Verfassungen der Länder wird dieser Gedanke deutlich formuliert. Dort heißt es, dass die Verfassungen der Länder auf die ?allgemeine rechtliche Freiheit und Gleichheit aller Bürger? gegründet sein müssen.

Manches, was heute unter dem Stichwort individueller Freiheit vertreten wird, hätte 1948 zu Recht eher als Hybris gegolten ? so etwa wenn es als Höhepunkt individueller Religionsfreiheit gesehen wird, das Kruzifix im Klassenzimmer oder im Gerichtssaal abzuhängen, weil sich Einzelne von der christlichen Bindung der Mehrheit gestört fühlen.

Die individuelle Religionsfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Aber sie ist kein Grundrecht, die kulturelle Prägung unseres Gemeinwesens aktiv umzugestalten. Die religiöse Freiheit, die wir auch für die Muslime haben und verteidigen, zwingt uns nicht dazu, auf liturgisches Glockengeläut so lange zu verzichten wie keine Muezzin-Rufe daneben erklingen ? oder gar in einer säkularen Radikalität gerade dann darauf zu verzichten, sobald es die öffentliche Forderung nach Muezzin-Rufen gibt. Ein Staat, der die individuelle Religionsfreiheit als Eingriffsermächtigung zur Umgestaltung seiner eigenen wertbildenden kulturellen Grundlagen nutzte, würde die Voraussetzungen zerstören, auf die er angewiesen ist und die er mit den Worten von Ernst-Wolfgang Böckenförde nicht selbst schaffen kann. Die säkulare Zerstörung des Religiösen würde ein Vakuum erzeugen, dass dann allenfalls durch Sekten oder die Rückkehr okkulter Glaubensinhalte gefüllt würde.

Ebenso wenig wie die Verfassungsväter an die beglückende Wirkung staatlicher Allmacht glauben konnten, waren die Grundrechte Ausdruck eines Bindungsverlustes. Und es ist letztlich vielleicht auch nicht überraschend, dass ein bindungsloses Freiheitsverständnis eher mit einem starken staatlichen Regelungsbedürfnis einhergeht. Wer dem Einzelnen nichts zutrauen darf, kann ihm auch nicht vertrauen. Der Staat muss dann alles Mögliche steuern und regeln und hierzu umfassend aktiv werden: von der Gesetzgebung über die Forschung bis hin zu Öffentlichkeitsarbeit und Subventionierung. Der maßlosen Individualität tritt so die maßlose Staatlichkeit zur Seite, und beide laufen Gefahr, dass sie die Voraussetzungen zerstören, von denen individuelle Freiheit und demokratisches Staatswesen leben.

So darf man die Gefahr nicht übersehen, dass aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine immer perfektionistischere Datenschutzgesetzgebung wird, die detailverliebt alles regelt und damit selbst für Experten kaum mehr durchschaubar ist. Wir setzen ein perfekt staatlich organisiertes und finanziertes Gesundheitswesen voraus, und jeder Ansatz von individueller Verantwortung für die Gesundheit oder Eigenverantwortlichkeit rührt an Tabus. Ein immer größeres Risikobewusstsein gegenüber bestimmten Gefährdungen ? Kernenergie, technologischer Fortschritt, Datenmissbrauch ? führt zu immer weiter ausufernder Regelungsperfektion. Wir haben den sparsamen und verantwortungsvollen Umgang mit Energie, Lebensmitteln und anderen Gütern weitgehend verlernt und verlassen uns nun auf den Staat, der uns über eine Energieeffizienzpolitik mit hunderten Interventionen bis hin zu einem Verbot von Glühbirnen leiten soll.

Aus dem Recht auf einen Studienplatz wurde eine immer perfektionistischere und zentralistischere Verteilungsbürokratie. Wir haben die Verantwortung für die Alten und Kranken in der Familie und in der sozialen Umwelt abgebaut, aber dafür eine umfassende staatliche Pflegeinfrastruktur aufgebaut. Und nun sprechen manche davon, die staatliche Betreuung von Kindern auf Kosten der Familienförderung zu forcieren, um Erziehungs- und Integrationsprobleme zu lösen.

Anders als 1948 scheint es heute weniger um die Rechte des Einzelnen zu gehen, wenn neue Grundrechte gefordert werden. So steckt hinter der Forderung nach einem Grundrecht für Kinder letztlich auch der Wunsch nach weiteren staatlichen Maßnahmen und Eingriffen, bestenfalls Leistungen, die die Erziehungsaufgabe und die Verantwortung für Kinder zulasten der Familie auf den Staat umverteilen. Man wird kaum jemanden finden, der nicht will, dass die Kinder in unserem Land fürsorglich geborgen, gewaltfrei und geliebt aufwachsen und dass sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es in den allermeisten Fällen die Familien ? die Mütter und die Väter ? sind, die diese Anforderungen am besten erfüllen, die am besten für ihre Kinder sorgen. Es sind Ausnahmen, in denen staatliche Betreuung für das Wohl des Kindes besser ist. Für eine Bewältigung dieser Ausnahmen brauchen wir keine neuen Grundrechte, sondern eine effektive Jugendverwaltung, die die Ausnahmen erkennt und dann handelt. Wir sollten die Grundrechte weder vom Ausnahmefall her konzipieren, für den man sie nicht braucht, noch als politische Landkarte für eine Verstaatlichung persönlicher Verantwortung verstehen. Ein Grundrecht für Kinder würde durch die Delegation der Verantwortung an den Staat die Familien insgesamt schwächen.

Nicht anders ist es mit den Staatszielen, die von jeder Interessengruppe für ihre Anliegen vorgebracht werden. Ein aktiv gestaltender Staat braucht eher weniger verfassungsrechtliche Staatsziele. Was richtig ist, muss die Politik entwickeln, darüber müssen die Bürger entscheiden und dann muss wirkungsvoll gehandelt werden. Staatsziele helfen hier an keiner Stelle. Wenn eine bestimmte Maßnahme für ein bestimmtes Anliegen richtig ist, wird sie durch eine Verfassungsbestimmung nicht richtiger. Wenn sie nicht sinnvoll ist, dann sollten wir uns auch durch Verfassungsziele nicht verleiten lassen, zu viel und damit Falsches zu tun.

Ich bin davon überzeugt, dass wir uns stärker auf die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen besinnen müssen. Das Verständnis, ein selbstbestimmter, aber auch für andere verantwortlicher Teil der Gesellschaft zu sein, war das Grundverständnis der im Herrenchiemseer Entwurf und dann im Grundgesetz verankerten Grundrechte.

Ebenso wichtig wie die Grundrechte war die Leitidee des Föderalismus bei der Ausgestaltung des Grundgesetzes. Dem megalomanen Zentralismus der Nazi-Diktatur sollte das Konzept eines föderalen Staates entgegen gesetzt werden.

Auf Herrenchiemsee wurden die Eckpfeiler des deutschen Föderalismus seit 1949 entwickelt: auf der einen Seite ein umfangreicher Katalog von Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes, auf der anderen Seite der Verwaltungsvollzug durch die Länder. Das ist das Gegenmodell zum Föderalismus amerikanischer Prägung, bei dem alle staatlichen Funktionen ? Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ? in Bezug auf ein bestimmtes Politikfeld auf einer Ebene zusammenlaufen.

Das deutsche Föderalismus-Modell hat sich insgesamt bewährt, es hat aber auch ? wie wir heute wissen ? zu manchen Schwierigkeiten geführt: Die vertikale Gewaltengliederung ? der Bund macht die Gesetze, die Länder führen sie aus ? hat die Grundlage für die Tendenz gelegt, die der Freiburger Rechtslehrer und frühere Verfassungsrichter Konrad Hesse Anfang der 1960er Jahre den ?unitarischen Bundesstaat? genannt hat. Im Laufe der Zeit hat der Bund die ihm übertragenen Zuständigkeiten, vor allem in der konkurrierenden Gesetzgebung, immer weiter ausgeschöpft, so dass von der Länderzuständigkeit in der Gesetzgebung nicht mehr viel übrig geblieben ist. Aufgrund einer Tendenz zur Verrechtlichung der Verwaltung und der eher unitarischen Finanzverfassung hat auch die Verwaltungszuständigkeit der Länder als realer Faktor föderaler Vielfalt an Kraft verloren. Der geringer gewordene Raum für ländereigene Regelungen wurde durch eine stärkere Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung kompensiert.

All das führte zu einer immer engeren Verflechtung von Bund und Ländern, die die Handlungsfähigkeit unseres Landes bisweilen nicht fördert.

Es hängt vielleicht auch mit dieser Entwicklung zusammen, dass der Föderalismus in Deutschland nur begrenzt populär ist. Die Schwerfälligkeit des föderalen Systems wird oft beklagt. Und Meinungsumfragen lassen überzeugte Föderalisten vermissen.

Wir müssen uns die Vorzüge einer föderalen Ordnung wieder stärker vor Augen führen. Nur so wird es gelingen, den Föderalismus zu erneuern.

Wir müssen die Vorteile von Machtbegrenzung und Mäßigung wieder schätzen lernen, ebenso wie die Überlegenheit ortsnaher Lösungen: effiziente Verwendung von Mitteln und persönliche Verantwortung sind lokal besser zu erreichen. Die Menschen bringen sich dort eher ein, wo sie sich unmittelbar angesprochen und betroffen fühlen. Der Bundesstaat ist auch eine gute Grundlage, um die kulturelle und regionale Vielfalt unseres Landes zu erhalten. Ich glaube, das ist eine Stärke unseres Landes, gerade in der Grenzenlosigkeit der modernen Welt, in der eben auch das Bedürfnis nach Nähe und Vertrautheit wächst.

Das europäische System gleicht unserem deutschen: die Regeln werden in Brüssel gemacht und dann durch nationale Behörden umgesetzt. So überrascht es nicht, dass die Politikverschränkungen in der Europäischen Union mitunter auch ein Gefühl von Intransparenz und mangelnder Verantwortungsklarheit erzeugen. Auch hier müssen wir gegensteuern, wie die Abstimmung in Irland wieder gezeigt hat. Vielleicht brauchen wir klarer definierte, nationale geschützte Kompetenzbereiche, um dem Eindruck entgegen zu wirken, Brüssel ziehe ? ungeachtet beschränkter Einzelkompetenzen ? früher oder später alles an sich. Im deutschen Föderalismus wie in Europa ist man davon ausgegangen, dass die untere Ebene ? also die Länder bzw. in Europa die Nationalstaaten ? grundsätzlich umfassend zuständig ist, während die obere Ebene nur genau definierte Zuständigkeiten hat. In der Praxis hat sich dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis eher umgekehrt, weil die untere der oberen Ebene keine positiv umschriebenen Kompetenztitel entgegensetzen kann.

Bei all den Diskussionen darüber, wie wir unsere föderale Ordnung am besten ausgestalten sollten, lohnt sich ein Blick in die Protokolle des Verfassungskonvents.

Die hier entworfene Fassung des Grundgesetzes war ? wohl nicht zuletzt wegen der Rolle der Ministerpräsidenten ? noch mehr auf die Eigenständigkeit der Länder bedacht als der später vom Parlamentarischen Rat beschlossene Text.

Dem sind wir in den letzen Jahren, durch die Föderalismusreform, wieder etwas näher gekommen, durch eine Stärkung der Länder bei der Gesetzgebung, durch die Reduzierung der zustimmungspflichtigen Gesetze und die Schärfung der Erforderlichkeitsklausel bei der konkurrierenden Gesetzgebung.

Diesen Weg müssen wir weiter gehen. Umgekehrt sollten wir mit Vorschlägen zurückhaltend sein, die auf eine stärkere Mischverwaltung zielen und in Bereichen, für die die Länder zuständig sind ? etwa bei Schulen und Kinderbetreuung ? ein stärkeres Engagement des Bundes fordern. Gegen die Popularität der Bundesbeteiligung bei der Lösung aller Aufgaben sollten wir stärker auf Wettbewerb, Benchmarking und Überzeugungskraft dezentraler Lösungen setzen.

Ob wir bei den Finanzthemen, die zurzeit in der zweiten Stufe der Föderalismusreform verhandelt werden, einen Schritt in die richtige Richtung schaffen, weiß ich nicht. Wenn es ums Geld geht, nimmt die Kompromissbereitschaft ab.

Unser Finanzausgleichsystem setzt falsche Akzente. Wenn auf wenige Zahlerländer doppelt so vielen Nehmerländern kommen, ist das eine Schieflage. Die Solidarität, die sich im Länderfinanzausgleich ausdrückt, ist wertvoll. Wenn aber 90 Prozent der Mehreinnahmen eines Landes in den Finanzausgleich fließen, schwächt das am Ende alle. Deswegen sollten wir die Steuerkompetenz der Länder stärken.

Der ursprüngliche Entwurf von Herrenchiemsee mit einem Steuer- und Hebesatzrecht der Länder, über das sich im Konvent ? ungeachtet der starken Kontroversen über die Finanzwirtschaft ? alle einig waren, wäre eine föderalismusfreundlichere Lösung gewesen.

?Die Fachleute von Herrenchiemsee wollten Grundgedanken einer offenen Gesellschaft formulieren?, hat Roman Herzog zum 50jährigen Jubiläum des Herrenchiemseer Entwurfs gesagt. ?Diese Regeln, so Herzog, sollten das Notwendige festlegen, ohne den sozialen Wandel im Großen und die individuelle Entfaltung im Kleinen unnötig einzuschränken Auf diese Weise entstand ein Regelwerk, das von der enormen Dynamik der Modernisierung nicht alsbald überrollt wurde.?

Auf dieser Grundlage konnte schließlich sogar der Weg zur Wiederherstellung der deutschen Einheit beschritten und die Spaltung Deutschlands überwunden werden. So hat der Entwurf dann schließlich doch zur Einheit Deutschlands beigetragen. Es gab 1990 übrigens die Idee, einen neuen Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee stattfinden zu lassen, um eine neue Verfassung für alle Deutschen zu beschließen. Ich war gegen diesen Vorschlag. Nicht so sehr wegen der Stechmücken, die hier schon 1948 als echte Landplage galten, sondern weil Herrenchiemsee für einen umfassenden Neuanfang stand. Bei der Wiedervereinigung Deutschlands konnten ? und wollten ? wir aber an die rechtsstaatliche und freiheitliche Tradition der Bundesrepublik Deutschland anknüpfen. Gerade diese Kontinuität wünschte auch die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen: in der alten Bundesrepublik, mehr noch in der ehemaligen DDR. Alles, was diese Kontinuität in Frage gestellt hätte, hätte zu Verunsicherung geführt und so dem Einigungsprozess und unserem zusammenwachsenden Land geschadet.

Während die Frage der deutschen Einheit 1948 ein zentrales, viel diskutiertes Thema war, hätte sich wohl kaum ein Mitglied des Verfassungsausschusses vorstellen können, wie dynamisch und erfolgreich der europäische Integrationsprozess vorankommen würde. Gleichwohl wurde auch hierfür in Herrenchiemsee eine Grundlage gelegt: Zum einen entschied sich der Entwurf ? gegen die Weimarer Tradition ? dafür, dass völkerrechtliche Regeln unmittelbar Bestandteil des Bundesrechts sind. Zum zweiten sah er vor, dass der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen könne. Gedacht hatte man damals an ein System kollektiver Sicherheit, nicht an die Wirtschaftspolitik.

Inzwischen haben wir in Europa eine neue Qualität der Zusammenarbeit erreicht. Damit ist ein teilweiser Souveränitätsverlust verbunden, aber das Regelungsmonopol der Nationalstaaten ist schon durch die tatsächliche Entwicklung im 20. Jahrhundert eingeschränkt worden. Und da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Europäische Union als ein Gebilde sui generis beschrieben hat, müsste konsequenterweise auch die Souveränität der Mitgliedstaaten mit dem Zusatz ?sui generis? ergänzt, also eingeschränkt werden.

Nicht zu vergessen ist auch, dass die Präambel des Grundgesetzes schon damals und auch in ihrer insoweit durch den Einigungsvertrag 1990 nicht geänderten Fassung die Einigung Europas als wirkliches Staatsziel formuliert.

In einer Welt, in der Grenzen aufgrund des technologischen Fortschritts zunehmend keine Rolle mehr spielen ? der Abbau von Grenzkontrollen zeichnet diese Entwicklung im Grunde nur nach ?, werden wir vielen Herausforderungen durch eine europäische und weltweite Zusammenarbeit besser gerecht.

Die nüchterne Zurückhaltung des Herrenchiemseer Entwurfs hatte es immer wieder schwer gegen das Bedürfnis weitergehender, detaillierter Regelung. Schon im Parlamentarischen Rat hat man ein Stück dieser Zurückhaltung aufgeben. Man nahm zusätzlich Grundrechte und institutionelle Garantien auf.

Spätere Verfassungsänderungen haben diese Tendenz verstärkt; die Beispiele des Art. 13 GG und Art. 16a GG habe ich schon genannt. Sie sind das Ergebnis mühsamer Kompromisse zum Erreichen der notwendigen Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, aber auch des Ehrgeizes von Gesetzgebung wie Rechtsprechung zu immer detaillierterer Regelung. Die Tendenz der Verfassungsrechtsprechung, nicht nur Einzelfälle zu entscheiden, sondern allgemeine Regeln abzuleiten, kommt hinzu.

Die Abgrenzung zwischen dem, was nur durch demokratisch legitimierte Mehrheit entschieden werden kann und dem, was dem Gesetzgeber durch die Verfassung als Rahmen und Grenze gesetzt ist, ist alles andere als trivial. Karl Popper und seiner offenen Gesellschaft verdanken wir die Einsicht, dass das verfassungsrechtlich gebundene Mehrheitsprinzip ? gerade in der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes ? Offenheit und Wandlungsfähigkeit fördert. Auf diesen Prozess von trial and error ist die in Herrenchiemsee zugrundegelegte Ordnung unseres Staatswesens angelegt und insgesamt hat sie sich mehr bewährt, als man damals wohl zu hoffen wagte.

Wir leben in einem offenen Europa im Frieden mit unseren Nachbarn. Und wir leben in einem freiheitlichen demokratischen und in einem vereinten Deutschland. Denen, die daran mitgewirkt haben, gilt unser Dank. Wir alle tragen Verantwortung, die Grundlagen einer offenen Demokratie, von Frieden und Freiheit auch für die Zukunft zu erhalten.