60 Jahre Grundgesetz



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Festakt „60 Jahre Grundgesetz“ der Türkischen Gemeinde in Deutschland
Mit Ihnen, den Mitgliedern der Türkischen Gemeinde Deutschland, gemeinsam 60 Jahre deutsches Grundgesetz zu feiern, erfüllt mich mit Freude. Das Deutschland von heute, ich brauche nur in das Publikum zu schauen, ist kulturell und religiös vielfältiger als das Deutschland von vor 60 Jahren. Diese Vielfalt ist mittlerweile selbstverständlich geworden. Das zeigt bereits die Sprache, die immer ein guter Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen ist. Hieß es vor nicht allzu langer Zeit noch „Türken in Deutschland“, so sprechen wir heute von deutschen Türken oder türkischen Deutschen oder kurz neuen Deutschen. Feridun Zaimoglu sagte einmal treffend, ich bin auch Deutscher, nur später dazugekommen.

Was verbindet nun aber die alten und die neuen Deutschen? Das Grundgesetz und die Werteordnung des Grundgesetzes bilden die Klammer, die die deutsche Gesellschaft zusammenhält, neben Geschichte, Kultur und Sprache. Ihre Feier zeigt: das 60jährige Jubiläum unserer Verfassung ist für alle Menschen in Deutschland ein Grund zur Freude. Ich habe daher gerne die Einladung der Türkischen Gemeinde Deutschlands angenommen, einige Gedanken zum Thema 60 Jahre Grundgesetz mit Ihnen zu teilen.

Vor 60 Jahren stand die Aufgabe im Vordergrund, dauerhaft für Deutschland eine freiheitlich-demokratische Ordnung zu schaffen. Und wenn ich schon den historischen Kontext erwähne, dann möchte hier eines hinzufügen. Sie, die Mitglieder der Türkischen Gemeinde Deutschlands, sollen wissen, dass nicht vergessen ist, dass viele von den Nationalsozialisten verfolgte deutsche und deutschsprachige Wissenschaftler Aufnahme in der Türkei fanden. Dankbar halfen sie der jungen Republik beim Aufbau des Rechtssystems, der Verwaltung und der Hochschulen. So kam es, dass Ernst Eduard Hirsch das türkische Handelsgesetzbuch verfasste, dass das Gebäude des türkischen Parlaments nach Entwürfen von Clemens Holzmeister errichtet wurde oder dass Paul Hindemith das Konservatorium von Ankara gründete. Die Liste der Deutschen, die in der Türkei Aufnahme fanden, ist lang. Der bekannteste unter ihnen ist Ernst Reuter, der nach seiner Rückkehr aus der Türkei Regierender Bürgermeister von Berlin wurde. Viele von ihnen kamen in den Jahren nach Ende des 2. Weltkrieges nach Deutschland zurück, um beim Neuanfang, dem Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu helfen. Sie blieben zeitlebens der Türkei verbunden.

60 Jahre ist eine lange Zeit für ein Provisorium, das das Grundgesetz ja einmal war. 1948 erhielten die Ministerpräsidenten der Länder in den westlichen Besatzungszonen von den Westalliierten den Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten. Ihre Vorstellung über die wesentlichen Elemente der neuen Verfassung hatten die Alliierten im ersten der so genannten Frankfurter Dokumente formuliert: Ziel war eine „föderative Regierungsform, die die Rechte der beteiligten Länder schützt und gleichzeitig eine angemessene Zentralinstanz schafft sowie Garantie der individuellen Rechte und Freiheiten.“ Die Ministerpräsidenten waren jedoch gegenüber der Schaffung einer Verfassung zurückhaltend. Sie befürchteten eine Verfestigung der deutschen Teilung und wollten nur ein Provisorium, weshalb auch der Name „Verfassung“ vermieden wurde. Aber dieses Provisorium wurde zu einem Glücksfall in der deutschen Geschichte, nicht zuletzt wegen seiner Anpassungsfähigkeit, mit der sich auch mehr als 40 Jahre später die deutsche Einheit herstellen ließ.

Das universelle Fundament des Grundgesetzes ist Artikel 1. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Das heißt, niemand, auch nicht der Staat, darf oder kann über die Würde eines Menschen verfügen. Die Menschenwürde wird nicht verliehen. Sie muss auch nicht erst verdient werden. Sie kann auch nicht genommen werden. In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es deshalb auch nicht, die Würde des deutschen Staatsbürgers ist unantastbar. Nein: Der Mensch ist würdig, weil er Mensch ist. Und der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass die Würde des Menschen geachtet und geschützt wird.

Artikel 1 bildet die zentrale Grundlage der dem Grundgesetz zugrunde liegenden Werteordnung. Unsere Verfassung schützt und garantiert die Grundrechte aller Menschen, die hier leben. Dies gilt unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Auch die Bürgerinnen und Bürger, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, stehen also unter dem Schutz des Grundgesetzes.

Aber auch nach 60 Jahren Grundgesetz und 20 Jahren deutscher Einheit muss sich jede Generation immer wieder neu darüber verständigen, wie die Werteordnung des Grundgesetzes mit Leben gefüllt wird. Vor allem kommt es im kulturell und religiös vielfältigeren Deutschland von heute darauf an, Werte wie Toleranz und Pluralismus auch vor dem Hintergrund der Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts neu zu erörtern. Was bedeutet offene Gesellschaft und was hält eine offene Gesellschaft zusammen?

Ich bin in diesem Zusammenhang der Überzeugung, dass jede stabile freiheitliche Ordnung auf ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und gemeinsamen Vorstellungen gründet. Man kann dies auch mit dem Satz des häufig zitierten Rechtslehrers Ernst-Wolfgang Böckenförde formulieren, nach dem der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Je mehr von diesen geteilten Wertevorstellungen, auf denen der freiheitliche, säkularisierte Staat beruht, vorhanden ist, umso weniger braucht man Reglementierung, Bürokratie und staatlichen Zwang und umso geringer ist die Gefahr, dass die freiheitliche Ordnung untergraben wird. Das ist für mich der Grund, warum wir eine Anerkennung der Werteordnung des Grundgesetzes und eine darauf gründende Zusammengehörigkeit brauchen. Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit und eine gemeinsame Identität sind deswegen auch das Ziel von Integration.

Heute leben in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft. Begonnen hat die Zuwanderung aus der Türkei vor fast 50 Jahren mit der Anwerbung von türkischen Arbeitnehmern. Als die Migranten – die damals noch Gastarbeiter hießen –, in den 60er und 70er Jahren zu uns kamen, hat man sich in erster Linie mit den Grundbedürfnissen wie Wohnen und Arbeit befasst. Als sie kamen, gingen zunächst alle – auch sie selbst – davon aus, dass sie irgendwann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden. „Wir haben einfach vergessen, zurückzukehren“, sagt der Vater des bekannten türkeistämmigen Regisseurs Fatih Akin in dessen gleichnamigen Dokumentarfilm und bringt damit diese Entwicklung treffend zum Ausdruck.

Viele der türkischstämmigen Mitbürger leben schon sehr lange in Deutschland, sie sind zum Teil hier geboren und einige haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber alle verbindet eine gewisse Ambivalenz im Verhältnis zu Deutschland, das Land, in dem sie ihre Familien gegründet haben, wo sie arbeiten und leben. „Wir haben zwei Heimaten. Wir leben hier und in der Türkei.“ So die Aussage einer 19jährigen Abiturientin. Aus ihr spricht die Suche nach der eigenen Identität und Herkunft.

Migrationsforscher raten hier zu Geduld. Sie fordern uns auf, Integration als einen Prozess zu verstehen, der für Einwanderer eine lebenslange Aufgabe ist und auch noch nicht in der zweiten oder dritten Generation abgeschlossen sein muss. Auch aus meiner Sicht trifft dies die Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Zugleich müssen wir anerkennen, dass auch wir es Zuwanderern nicht immer einfach gemacht haben, den Erwartungen gerecht zu werden. In Deutschland wurden in den 70er und 80er Jahren viele ausländische Kinder nur wegen Sprachschwierigkeiten an Sonderschulen verwiesen. Das ist ein ganz bitteres Kapitel in unserer Migrationsgeschichte.

Nicht zuletzt haben uns die Brandanschläge in Solingen vor Augen geführt, dass es auch Gefährdungen für unsere gemeinsame freiheitliche Grundordnung gibt. Solingen ist stete Mahnung, dass wir nicht nachlassen dürfen, uns für unsere freiheitliche demokratische Gesellschaft und das Zusammenleben in Vielfalt und Toleranz einzusetzen. Das bedeutet auch, dass wir selbstbewusst und entschieden gegen die Feinde unserer Freiheitsordnung vorgehen müssen.

Überall, wo die Menschen in ihrer Verschiedenheit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, werden die Radikalen, die einen Keil in unsere Gesellschaft treiben wollen, keinen Erfolg haben. Jede stabile, freiheitliche Ordnung braucht ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und gemeinsamen Vorstellungen davon, wie man zusammenlebt. Damit Vielfalt eine echte Bereicherung ist, benötigen wir eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens, auf der einerseits niemand seine eigene Identität aufgeben muss, wir andererseits aber offen genug sind, um uns aufeinander einzustellen.

Deshalb brauchen wir eine offene Gesellschaft, die Integration fördert – die nicht mit Assimilation gleichzusetzen ist. Türken und türkischstämmige Bürger sind in unserem Land willkommen, es ist auch wichtig, dass sie mit uns zusammen leben und nicht neben uns her, dass sie ein Teil Deutschlands sind und bleiben wollen.

Bei den Zuwanderern aus der Türkei ist der Integrationserfolg recht unterschiedlich. Viele sind gut, teilweise sehr gut integriert und viele Migranten türkischer Herkunft sind erfolgreich in Schule, Studium und Beruf und nehmen führende Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein. Leider werden diese herausragenden Bildungsgeschichten in der Öffentlichkeit nur selten wahrgenommen. Auf der anderen Seite haben wir bei den türkischstämmigen Migranten der zweiten und dritten Generation Integrationsdefizite. Dabei müssen wir feststellen, dass die Schere immer größer wird zwischen den türkischstämmigen Migranten, die über gute Voraussetzungen für die Integration verfügen, und denjenigen, denen die Voraussetzungen fehlen und die in die Gefahr einer Marginalisierung laufen. So nehmen die Probleme im Laufe der Generationen nicht ab, sondern zu. Gerade in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt schneiden türkischstämmige Migranten insgesamt schlecht ab.

Ende Januar hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Studie zur Lage der Integration in Deutschland veröffentlicht, über die viel diskutiert worden ist. Allerdings stammen die Grunddaten aus dem Mikrozensus und sind deshalb unbestritten. Nach der Studie schaffen junge türkische Mitbürger in Deutschland nur halb so oft höhere Bildungsabschlüsse wie Einheimische. 30 Prozent der türkischstämmigen Migranten in Deutschland haben keinen Bildungsabschluss. Aber wenn sie vergleichbare soziale Voraussetzungen haben, sind sie genau so erfolgreich wie andere Bevölkerungsgruppen. Also liegt es nicht an der Herkunft, sondern an sozialer Integration.

Was können wir tun, um diese Situation zu verändern? Aufgabe der Integrationspolitik ist es, die Menschen zusammenzuführen und ihnen gleiche Rechte und Chancen zu ermöglichen. Fairer und gleichberechtigter Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt spielen dabei eine wesentliche Rolle. Wir haben dazu ein Integrationskonzept entwickelt, dass sich am Prozess der Zuwanderung orientiert. Es beginnt mit Maßnahmen der Vorintegration im Herkunftsland und begleitet die Zuwanderer nach ihrer Ankunft in Deutschland – im Idealfall bis hin zur Einbürgerung.

Die wichtigste Integrationsmaßnahme des Bundes ist der Integrationskurs. In einem flächendeckenden System aus Sprach- und Orientierungskursen schaffen wir die Voraussetzungen, dass Zuwanderer die Chancen, die dieses Land bietet, besser nutzen können. Innerhalb von fast vier Jahren haben bereits 500.000 Zuwanderer an einem Integrationskurs teilgenommen. Der Bund wendet 174 Millionen Euro aus seinem Haushalt für die Integrationskurse auf.

Der Staat kann jedoch nicht alles regeln und umsetzen. Wir wissen um die Bedeutung der Migrantenorganisationen für die Integration und fördern sie deshalb mit nicht unerheblichen Mitteln. Eines möchte ich in diesem Zusammenhang aber doch erwähnen. Ich würde mir schon wünschen, dass sich die Migrantenorganisationen weniger als Interessenvertreter der Zuwanderer und ihrer Herkunftsländer, sondern mehr als Mediatoren und Mittler für eine erfolgreiche Integration ihrer Landsleute verstehen.

Ein weiterer Aspekt, der in einem engen Zusammenhang mit der Integrationsdebatte steht, ist das Thema Religion und das Verhältnis zum Islam. Wie alle modernen freiheitlichen Verfassungen gewährt auch das Grundgesetz Religionsfreiheit. Unsere verfassungsrechtlichen Regelungen zum Verhältnis zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften, die wir traditionell mit dem Begriff „Staatskirchenrecht“ bezeichnen, ist auf ein Verhältnis der Partnerschaft angelegt. Wir sind säkular und weltanschaulich neutral, aber wir sind nicht laizistisch oder säkularistisch. Denn auch der säkulare Staat ist angewiesen auf die sinnstiftende Kraft von Religion. Anders als etwa in Frankreich wirkt unser Staat mit den Religionsgemeinschaften zusammen. Der religiöse Bekenntnisunterricht nach Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz ist das wichtigste, aber nicht das einzige Beispiel dafür. Das besondere an dieser „positiven Neutralität“ ist die Verbindung der wechselseitigen Begrenzung der weltlichen und geistlichen Sphäre mit einem positiven Zusammenwirken beider Sphären zum Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft.

Das bedeutet aber natürlich nicht, dass Religionsfreiheit ein Blankoscheck ist, mit dem man sich aus der verfassungsrechtlichen Ordnung verabschieden kann. Die Religionsfreiheit entbindet nicht von der Treue zur Verfassung und ist daher auch nicht – wie es der Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio formuliert hat – ein „Grundrecht de luxe“ – das andere Rechte und Freiheiten zur Seite verdrängen vermag. Die verfassungsrechtliche Ordnung begrenzt vielmehr auch die Religionsfreiheit.

Die Muslime in Deutschland, deren überwiegende Mehrheit aus der Türkei stammt, fordern im Hinblick auf Religionsunterricht an staatlichen Schulen Gleichbehandlung mit den christlichen Kirchen. Die Berechtigung dieses Anliegens ist nicht zu bestreiten. Jedoch wird zu recht von den Gruppen, die als Religionsgemeinschaft Partner des Staates bei der Einführung von Religionsunterreicht sein wollen, die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen verlangt. Das wirft insbesondere für Muslime selbst ziemlich schwierige Fragen auf. Auch deshalb habe ich die Deutsche Islam Konferenz ins Leben gerufen, um in einem dauerhaft angelegten Dialog zwischen Staat und Muslimen in unserem Land ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wie die die gesellschaftliche und religionsrechtliche Integration von Muslimen in Deutschland verbessert werden kann.

Wie in den vergangenen 60 Jahren wird das Grundgesetz auch in Zukunft den Anforderungen veränderter gesellschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen gerecht werden. In diesem Zusammenhang warne ich vor der Gefahr, alle Lebensbereiche zu verrechtlichen und in der Konsequenz alles zur Verfassungsfrage zu erheben. Der Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz – gerade auch der jüngst nochmals wieder erhobenen Forderung nach einer Verankerung der deutschen Sprache als Staatssprache – stehe ich daher kritisch gegenüber. Wenn Staatszielbestimmungen nicht nur Selbstverständliches zum Ausdruck bringen oder überflüssige Lyrik sein sollen, ist meist zu befürchten, dass es dabei in Wahrheit um den Versuch geht, künftige politische Entscheidungen durch Verfassungsinterpretation zu ersetzen. Wir müssen uns aber gegen jeden Versuch wehren, Politik durch Semantik zu ersetzen. Denn wer Inhalte in der Verfassung verankert, entzieht sie – bewusst oder unbewusst – dem weiteren politischen Diskurs.

Wir sollten uns die Offenheit des Grundgesetzes gegenüber Veränderungen erhalten, indem wir es soweit wie möglich aus der tagespolitischen Diskussion heraushalten. Nur als anpassungsfähiges und vitales Grundgerüst unseres Staates kann es mit der ihm innewohnenden Stabilität seine eigentliche Funktion erfüllen und die Eckpfeiler für notwendige Veränderungen setzen. Dann wird es auch um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes gut bestellt sein.